Die Sozialstruktur Triers in der Spätphase des Alten Reiches
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1. Trier im späten 18. Jahrhundert
Die Stadt Trier befand sich im späten 18. Jahrhundert in einer schwierigen Lage. Zwar firmierte sie nach wie vor stolz als Haupt- und Residentz-Stadt[1] des gleichnamigen Kurfürstentums, doch täuschte diese Titulatur in gewisser Weise über die historischen Realitäten hinweg. Die Moselmetropole nahm in der urbanen Rangfolge innerhalb des Kurstaates in der Spätphase des Ancien Régime hinter Koblenz klar den zweiten Rang ein und hatte den Nimbus als wichtigstes städtisches Zentrum bereits länger eingebüßt.
Schon seit dem frühen 17. Jahrhundert hatte mit der schrittweisen Verlegung der kurfürstlichen Residenz moselabwärts jener Bedeutungsverlust eingesetzt, der im späten 18. Jahrhundert unter der Landesherrschaft von Clemens Wenzeslaus von Sachsen seinen Höhepunkt erreichte. Der letzte Trierer Kurfürst besuchte die namensgebende Kapitale seines Kurstaates und Kathedralstadt seines Erzbistums in den 26 Jahren seiner Amtszeit insgesamt nur dreimal und nach 1775 bis zum Ende des Alten Reiches überhaupt nicht mehr. Trier, das noch im Spätmittelalter eine der wichtigsten und mit über 10.000 Einwohnern auch eine der größeren Städte des Heiligen Römischen Reiches gewesen war, sank somit im Laufe der Frühen Neuzeit mehr und mehr auf den Rang einer eher unbedeutenden Landstadt in der äußersten westlichen Peripherie des Reiches – und damit in gefährlicher Nachbarschaft zum expandierenden Frankreich – ab.
Was Trier bis zum Ende des Ancien Régime von seiner ehemaligen Bedeutung blieb, war neben seinen zentralörtlichen Funktionen für das sogenannte Obererzstift, den südwestlichen Landesteil des Kurfürstentums, die nach wie vor gegebene Funktion als geistlich-spirituelles Zentrum des Erzbistums. Der Trierer Dom war als Metropolitankirche die Grablege zahlreicher Erzbischöfe und mit dem Domkapitel, dem Offizialat und dem Priesterseminar hatten die wichtigsten geistlichen Gremien und Institutionen nach wie vor ihren Sitz in der Moselstadt. Ferner war Trier mit seinen zahlreichen Klöstern und Kirchen Jahr für Jahr das Ziel zehntausender Pilger. Doch vermochte diese Bedeutungsfülle im geistlichen Bereich nur schwerlich darüber hinwegzutäuschen, dass die Stadt anders als in früheren Jahrhunderten für die weltlichen Geschicke des Kurstaates nunmehr von deutlich nachrangiger Bedeutung war.[2]
2. Die wirtschaftliche Lage der Stadt und ihrer Bewohner
Darüber hinaus ging der machtpolitische Bedeutungsschwund auch in wirtschaftlicher Hinsicht mit einer negativen Entwicklung einher, welche durch weitere exogene wie endogene Faktoren verstärkt ebenfalls im späten 18. Jahrhundert kulminierte. Während die Ursachen dieser Krise in einer durch langfristige Trends und mitunter weit zurückliegende Ereignisse bedingten Strukturschwäche zu suchen sind, sorgten in der Spätphase des Alten Reiches eine Reihe aktueller Entwicklungen und verschärfender Faktoren für die krisenhafte Zuspitzung der Lage.
Auf lange Sicht strukturschwächend wirkten sich neben dem Verlust der Residenzfunktion und den zahlreichen Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen die Stadt und ihr Umland immer wieder zum Aufmarschgebiet wechselnder Armeen wurden, auch die beiden Großereignisse der Trierer Stadtgeschichte des 16. Jahrhunderts aus: der gescheiterte Reformationsversuch Caspar Olevians und die Niederlage der Stadt im Prozess um die Reichsunmittelbarkeit (1580). Das Scheitern Olevians hatte in wirtschaftlicher Perspektive nicht zuletzt deshalb negative Folgen, weil unter den zahlreichen aus Trier ausgewiesenen Protestanten viele ökonomische Leistungsträger der Stadtgesellschaft waren, deren Knowhow und Vermögen dem städtischen Wirtschaftsverbund damit entzogen wurden. Ferner machte die fortan festgeschriebene katholische Monokonfessionalität den Zuzug protestantischer Wirtschaftsakteure bis ins späte 18. Jahrhundert unmöglich, was die Expansions- und Dynamisierungsmöglichkeiten weiter einengte. Die endgültige Unterwerfung unter die kurfürstliche Landesherrschaft hingegen schwächte das wirtschaftliche Leben der Moselmetropole weniger augenfällig, dafür aber ebenso nachhaltig. Nur zwei Monate nach seinem Sieg vor dem Reichskammergericht hatte Kurfürst Jakob III. von Eltz Einzug in Trier gehalten und mit der Eltziana eine neue, nach ihm benannte Stadtordnung erlassen, welche die Stadt einer strengen landesherrlichen Kontrolle unterwarf – und damit nicht zuletzt auch die außen- und wirtschaftspolitischen Spielräume der Kapitale massiv einschränkte. Durch die fortan statthabende landesherrlich-kameralistische Steuerung erfuhr das städtische Wirtschaftsleben eine zunehmende Reglementierung, welche sich letztlich für die konjunkturelle Entwicklung als abträglich erwies.
Zu den langfristig strukturschwächenden Entwicklungen und Ereignissen, welche die Trierer Wirtschaft nahezu die gesamte Frühe Neuzeit über hemmten, kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Reihe verschärfender Faktoren, die zum Ende des Ancien Régime hin für eine krisenhafte Zuspitzung der Lage sorgten. Zu nennen sind unter anderem die merkantilistische Abschottung Lothringens und Luxemburgs, womit zwei der traditionell wichtigsten Absatzmärkte für Trierer Produkte wegbrachen, die im aufgeklärten Zeitgeist erfolgten Einschränkungen im Prozessions- und Wallfahrtswesen, welches bis dahin ebenfalls ein wichtiger Wirtschaftsfaktor gewesen war, sowie der Niedergang der Trierer Universität und die damit verbundenen rückläufigen Studentenzahlen. Weiter verstärkt wurden die Folgen dieser negativen Entwicklungen durch eine Häufung klimatischer und meteorologischer Extremereignisse in den 1780er Jahren (extrem kalter Winter 1783/1784, sogenanntes Jahrtausendhochwasser von 1784, überwiegend kalte, verregnete Sommer und damit steigende Getreidepreise), sodass sich die Stadt und viele ihrer Bewohner im späten 18. Jahrhundert in einer wirtschaftlich prekären Lage befanden.
Einen anschaulichen Beleg für die schwierige Gesamtsituation bietet der städtische Schuldenstand. Dieser war im 18. Jahrhundert trotz landesherrlicher Interventionsversuche wie der Stadtökonomieverordnung Clemens Wenzeslaus‘ (1773) stetig angewachsen und belief sich im Jahr 1783 auf über 21.000 Reichstaler – und damit auf mehr als das Doppelte der durchschnittlichen städtischen Jahreseinnahmen.[3] Doch nicht nur auf der Stadtkasse lasteten hohe Schulden, auch die meisten der Zünfte und Bruderschaften, in denen die Bürgerschaft organisiert war, waren verschuldet. Ihr Gesamtschuldenstand bewegte sich in ähnlichem Rahmen wie das auf der Stadtkasse lastende Minus. Im Jahr 1787 summierten sich die Außenstände auf 20.825 Reichstaler – außer den Bäckern (2.463 Reichstaler und 18 Albus Amtsvermögen) und den Fischern (200 Reichstaler Amtsvermögen), waren alle städtischen Korporationen verschuldet[4].
Der wirtschaftliche Niedergang Triers hat sich jedoch nicht nur in dem enormen Schuldenstand der Stadt im Allgemeinen und der bürgerlichen Korporationen im Besonderen niedergeschlagen, sondern ist auch anhand der im Verlauf des 18. Jahrhunderts sinkenden steuerlichen Leistungsfähigkeit der Trierer Bürger nachzuvollziehen. Quellenmäßig greifbar wird dieselbe in den sogenannten „Nahrungsgeldbüchern“[5]. Das Nahrungsgeld war eine Art vormoderner Einkommens- beziehungsweise Gewerbesteuer, die von den Bürgern nach Zünften und Bruderschaften unterteilt vierteljährlich zu entrichten war. In der Gesamtschau lässt diese Steuer dank ihrer Kopplung an den jeweiligen Verdienst Rückschlüsse auf die konjunkturelle Entwicklung der Stadt zu. Betrachtet man die Entwicklung des Gesamtnahrungssteuervolumens im 18. Jahrhundert, so wird der negative Trend mehr als augenscheinlich: Hatten die Trierer Bürger 1719 noch insgesamt 97 Reichstaler und 45 Albus entrichtet, so waren es 1784 gerade noch 51 Reichstaler und 8 Albus[6] – der Gesamtumsatz des städtischen Handwerks und Handels hatte sich also in nicht einmal 70 Jahren fast halbiert.
Noch dramatischer wirkt dieser Einbruch, wenn man neben dem Gesamtsteuervolumen auch die Entwicklung der Anzahl von Steuerzahlern im gleichen Zeitraum berücksichtigt. Während sich das Steuervolumen fast halbierte, wuchs die Zahl der Geschatzten, der zur Steuer Herangezogenen, sogar von 895 (1719) auf 1465 (1784) – mithin um gut 64 Prozent. Das bedeutet, dass für den immer niedriger ausfallenden Gesamtertrag des Nahrungsgeldes im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Bürger herangezogen werden mussten, während die Anzahl der steuerlich Leistungsfähigen, also derjenigen, die genug verdienten, um Nahrungsgeld entrichten zu können mehr oder weniger konstant blieb (1719: 797 und 1784: 831). Damit sank also nicht nur das Gesamtsteuervolumen, sondern auch der Pro-Kopf-Steuerbetrag, was zusammengenommen die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Triers im 18. Jahrhundert mehr als deutlich widerspiegelt.
Der Rückgang der steuerlichen Leistungsfähigkeit bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum deutet darüber hinaus im Umkehrschluss auf eine Zunahme von Armut in der Stadt hin, welche quellenmäßig ebenfalls in den Nahrungsgeldbüchern greifbar wird. Diese differenzieren mit Blick auf die Armen zwischen zwei Gruppen: Zum einen führen sie diejenigen Bürger auf, welche aufgrund ihres geringen Verdienstes zwar kein Nahrungsgeld, also keine Einkommens- beziehungsweise Gewerbesteuer, aber immerhin den sogenannten Schirm- oder Ehegulden entrichten konnten – eine pauschale Kopfsteuer (für Verheiratete 36 Albus und für Ledige 18 Albus), die jeder Bürger jährlich für den Schutz durch den Landesherrn zu entrichten hatte. Zum anderen werden in diesen Steuerlisten einige Personen aber auch explizit als „arm“ oder „pauper“ bezeichnet. Diese Bürger waren sogar so unbemittelt, dass sie weder Nahrungsgeld noch den Schirmgulden entrichten konnten. Fasst man beide Gruppen zusammen, so zählte ausweislich der Berechnungen Thomas Kohls[7] in der Spätphase des Ancien Régime gut die Hälfte der Bürgerschaft zu den Armen und Unbemittelten, während deren für das frühe 18. Jahrhundert errechneter Anteil noch im niedrigen einstelligen Prozentbereich gelegen hatte.
Berücksichtigt man zudem, dass die unterbürgerlichen Schichten, welche vermutlich rund zehn Prozent der Bevölkerung stellten und unter denen der Anteil an Armen durchaus groß gewesen sein dürfte, in den Nahrungsgeldbüchern nicht erfasst wurden, so dürfte die Armenquote für die gesamte Stadtbevölkerung wohl sogar über 50 Prozent gelegen haben. Diese Schätzung wird gestützt durch die zeitgenössische Bilanz einer landesherrlichen Kommission aus dem Jahr 1789[8], in der es über die Einwohnerschaft Triers heißt, daß die Hälfte derselben in Dürftigkeit lebet, kaum der vierte Theil sich ehrbar zu ernehren im stand, und vielleicht nicht der fünfzigste Theil das sei, was man wohlhabende Burgere nennt. Einer großen Gruppe Armer und von Armut Bedrohter standen demnach in der Spätphase des Ancien Régime eine kleine Gruppe fiskalischer Leistungsträger und ein sehr kleiner Kreis Wohlhabender und Reicher gegenüber.
Abschließend gilt es festzuhalten, dass von den skizzierten wirtschaftlichen Negativentwicklungen im 18. Jahrhundert nicht alle Mitglieder der Stadtgesellschaft in gleichem Maße betroffen waren. Denn zum einen erwiesen sich einzelne Berufsgruppen als krisenresistenter als andere: Zu nennen sind hier neben den Krämern mit den Metzgern und den Bäckern vor allem die Handwerke des täglichen Bedarfs, während zu den großen Verlierern die in früheren Jahrhunderten das Trierer Wirtschaftsleben maßgeblich prägenden Wollenweber zu zählen sind. Und zum anderen war es einigen der wenigen Wohlhabenden und Reichen im gefragten Zeitraum sogar gelungen, ihr Vermögen zu vermehren, während die Masse der Bevölkerung an oder unterhalb der Grenze des Existenzminimums lebte.[9] Charakteristisch für die Entwicklung der Trierer Stadtgesellschaft im 18. Jahrhundert war demnach ein wachsendes Maß an ökonomischer Ungleichheit: Während die wenigen Reichen immer reicher wurden, gerieten immer größere Teile der Bevölkerung in Armut oder drohten in die Bedürftigkeit herabzusinken.
3. Formal-administrative Organisationsstrukturen und ständisch-korporative Gliederung der Stadtgesellschaft
In Teilen quer zur geschilderten ökonomischen Schichtung lagen die formal-administrativen Organisationsstrukturen und die ständisch-korporative Gliederung der Trierer Stadtgesellschaft am Vorabend der Französischen Revolution. Bei den Organisationsstrukturen gilt es zwischen der geistlichen und der weltlichen Administration zu differenzieren. Für die geistliche Einteilung waren die fünf Stadtpfarreien St. Paulus, St. Antonius, St. Gervasius, St. Gangolf und St. Laurentius konstitutiv, deren Pfarrer für die städtische Bevölkerung im Alltagsleben nicht nur seelsorgerisch verantwortlich waren, sondern auch wichtige gesellschaftliche Funktionen (wie etwa das Ausstellen von Armenzeugnissen) versahen. Weltlich hingegen war die Trierer Bürgerschaft für die Organisation des Wachtdienstes in insgesamt vier Wachtbezirke, sogenannte Quartiere oder Kantone, eingeteilt, welche sich räumlich nach den Stadttoren (Simeonspforte, Neu- und Altpforte, Brückenpforte, Krahnen- und Martinspforte) strukturierten.[10]
Das dominante Moment bei der gesellschaftlichen Gliederung war indes in Trier wie allerorten im Alten Reich das ständische. An der Spitze der sozialen Hierarchie standen Adel und Klerus. Der in Trier ansässige ritterschaftliche Adel wie die Familien von Kesselstatt oder von Walderdorff nahm eine Sonderstellung innerhalb der Stadtgesellschaft ein, da er 1729 endgültig in die Reichsstandschaft entlassen worden war und damit – anders als das Gros der Bevölkerung – nicht dem kurfürstlichen Untertanenverband angehörte. Eine Sonderstellung beanspruchten auch die zahlreichen Kleriker in der Stadt. Ihre Anzahl belief sich im späten 18. Jahrhundert auf rund 500, womit die Geistlichen bei einer Gesamteinwohnerzahl von etwa 7.500 bis 8.000[11] nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ eine wichtige Bevölkerungsgruppe stellten, deren absolut wie relativ beachtliche Größe aus Triers Gepräge als geistlich-spirituelles Zentrum des Erzbistums resultierte. Die klerikale Einwohnerschaft verteilte sich auf insgesamt 26 geistliche Einrichtungen innerhalb und fünf außerhalb der Stadtmauern.
Während der Adel und der Klerus als die beiden führenden Stände von allen bürgerlichen Lasten (wie dem Wachtdienst) und auch den indirekten Steuern befreit waren, war es in Trier wie andernorts die Bürgerschaft, welche die eigentliche Stadtgesellschaft bildete. Ihrem ursprünglich egalitären Konstruktionsprinzip als Schwurgemeinschaft entgegen wies diese dabei ihrerseits eine statusbezogene Binnengliederung auf. Dem Rang nach an der Spitze der städtischen (bürgerlichen) Gesellschaft stand in Trier eine kleine Gruppe rechtlich Privilegierter, aus der sich die politische und ökonomische Elite rekrutierte – welche in der Moselstadt bezeichnenderweise weitestgehend deckungsgleich waren. Ihrer Zusammensetzung und Größe nach fassbar wird diese privilegierte Gruppe etwa in den Steuerlisten des Jahres 1784.[12] Sie konstituierte sich demnach aus den Geheim- und Hofräten (sieben Personen), den Bürgermeistern, Hochgerichtsschöffen und Magistratsmitgliedern (35 Personen), den Doctores et Personae publicae (44 Personen), welche im Wesentlichen den Personalbestand der Universität bildeten, den Actuarii et Notarii (26 Personen), wobei es sich um Notare und andere Bürger mit öffentlichen Aufgaben handelte, und den sogenannten Dames (23 Personen), den Witwen und unverheirateten weiblichen Verwandten hoher städtischer oder landesherrlicher Funktions- und Würdenträger. Insgesamt umfasste der rechtlich privilegierte Kreis an der Spitze der Bürgerschaft also 135 Haushaltsvorstände, welche wie Adel und Klerus vom Wachtdienst befreit waren und kein Nahrungsgeld zahlen mussten, sondern nur den bereits genannten Schirmgulden – den sich freilich die Magistratsmitglieder aus der Stadtkasse zurückerstatten ließen und damit zwar nicht de jure, aber de facto Abgabenfreiheit genossen.
Die bürgerlichen Lasten hatten daher die in Zünften beziehungsweise Ämtern und Bruderschaften organisierten Handwerker, Händler und Tagelöhner zu tragen, welche den Steuerlisten von 1784 zufolge in der Spätphase des Alten Reiches gut 1.370 Haushaltsvorstände stellten. Sie verteilten sich auf insgesamt 22 Korporationen, zwischen denen es abermals Rangabstufungen gab: An der Spitze standen die vier sogenannten großen Ämter der Wollenweber, Bäcker, Metzger sowie Schuhmacher und Lauer, gefolgt von den kleinen Ämtern der Geschenkter, Krämer, Fassbinder, Schneider, Leyendecker, Schmiede und Schlosser, Zimmerleute und Schreiner, Schiffer, Fischer, Steinmetze und Maurer sowie Leinenweber und den Bruderschaften der Köche, Karcher, Barbiere, Weinschröter, Sackträger, Goldschmiede und Perückenmacher. Überwiegend am unteren Ende der sozialen Skala innerhalb der Bürgerschaft rangierten die sogenannten Zendersleute, das heißt diejenigen Bürger, welche weder der bürgerlichen Elite noch einer der genannten Korporationen angehörten und daher der städtischen Polizeigewalt, dem Zender, unterstellt waren.[13]
Unterhalb und außerhalb der Bürgerschaft lebten aber noch weitere Gruppen im Trier des späten 18. Jahrhunderts: Neben der jüdischen Bevölkerung (13 Familien im Jahr 1785)[14] und den sogenannten Beisassen, sprich den Einwohnern ohne Bürgerrecht, sind hier vor allem die Studenten zu nennen, deren Anzahl allerdings bedingt durch den allgemeinen Niedergang der Universität zum Ende des Ancien Régime hin stark zurückging.
Ihre sichtbare Manifestation fand die ständische Hierarchie der städtischen Gesellschaft in der seit 1593/1594 gültigen Kleiderordnung, die allen sozialen Gruppen innerhalb der Stadt bestimmte Kleidungsvorgaben machte und sogar 1794 noch – nur gut einen Monat vor der Eroberung Triers durch französische Revolutionstruppen – in Teilen erneut eingeschärft wurde. Besonders die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und am unteren Ende der sozialen Skala stehenden Gruppen hatten demnach ihre Sonderrolle durch das äußerliche Erscheinungsbild kenntlich zu machen. So mussten etwa die Juden, damit man sie erkannt, zum unterschied der christen gelbe ringe eines königs talers breit vorn auf den mänteln oder kleidern offen und unverdeckt tragen[15]; gleiches galt für die offiziell zugelassenen Bettler.
Ferner dienten jedoch auch festliche Anlässe wie Prozessionen der öffentlichen Visualisierung und Inszenierung der standes- und statusbezogenen gesellschaftlichen Hierarchie. Wie exemplarisch aus dem Jahr 1779 überliefert ist, folgten bei derartigen Festzügen dem Rang nach absteigend auf das Allerheiligste zunächst Adel und Klerus, denen sich die Hoff=Räth, die Stadt=Diener [...], die Raths=Herren, die Dom=Herren Bedienten, die Zünften [...] nach der range, als: Die Wollen=Weber, Becker, Metzger, Schue=Macher und Lauer, Geschenckter, Schneider, Krämer, Faß=Binder, Schloßer, Schmitt, Kupferschmitt, Tach=Decker, Schreiner, Drechsler und Wagner, Schiff-Leutt, Baumeister, Steinhauer und Maurer, Leinen=Weber, Fischer, Kochbruderschaft und dergleichen[16] anschlossen, bevor die nichtbürgerlichen Einwohner Triers sowie die Bauern des Umlandes den Abschluss bildeten.
Während die Standesgrenzen in der Regel verhältnismäßig starr waren, war die Möglichkeit eines sozialen Aufstieges innerhalb der Bürgerschaft durchaus gegeben – vor allem durch die Teilhabe am Stadtrat. Dieser konstituierte sich im 18. Jahrhundert unter der Leitung eines kurfürstlichen Statthalters und des Stadtschultheißen aus acht sogenannten Ratsschöffen, die zugleich auch Schöffen am kurfürstlichen Hochgericht waren, und 20 sogenannten Amtsmeistern, bei denen es sich de jure um Vertreter der Trierer Bürgerschaft handelte. Diese Konstellation eröffnete für ambitionierte Bürger zwei Zugangswege zur Teilhabe am obersten städtischen Gremium: Wer eine der Ratsschöffenstellen erlangen wollte, musste über ein (in der Regel an der Landesuniversität absolviertes) Jurastudium verfügen und im kurfürstlichen Dienst als Schöffe am Trierer Hochgericht tätig sein, da die dort tätigen Juristen nach dem Anciennitätsprinzip auf die vom Landesherrn zu besetzenden Ratsschöffenstellen nachrückten. Diesen Weg des sozialen Aufstiegs hat beispielsweise Franz-Ludwig Weidenkranz (1730–1792) beschritten, dessen Vorfahren sich ihren Lebensunterhalt noch als Müller in St. Martin bzw. Bäcker verdient hatten und der von 1755 bis 1763 an der Trierer juristischen Fakultät immatrikuliert war, bevor er es ab dem 8.3.1763 zunächst zum Hochgerichts- und Ratsschöffen sowie ab 1781 schließlich sogar zum Syndikus der Stadt Trier schaffte.[17]
Wer indes eine der von den einzelnen Ämtern zu besetzenden Amtsmeisterstellen einnehmen wollte, musste über keine bestimmte Qualifikation, wohl aber über die nötige finanzielle Ausstattung verfügen – denn anders als in der Eltziana von 1580 vorgesehen, entsandten die bürgerlichen Korporationen am Vorabend der Französischen Revolution keine Vertreter aus ihren eigenen Reihen mehr in den Magistrat, sondern verkauften ihre Ratsmandate regelmäßig meistbietend an wohlhabende, aber zunftfremde Mitglieder des städtischen Honoratiorentums. Begonnen hatte diese Entwicklung bereits im 16. Jahrhundert, sich dann im 17. Jahrhundert ausgeweitet, bevor sie schließlich im 18. Jahrhundert angesichts der großen Schuldenberge, auf denen die meisten Ämter saßen, einen fast schon zwangsläufigen Charakter annahm und letztlich außer dem Krämeramt keine Korporation mehr eigene Mitglieder in den Stadtrat entsandte beziehungsweise entsenden konnte. Die für die Ratsstellen ausgelobten und tatsächlich gezahlten Preise unterstreichen die weiter oben skizzierten großen ökonomischen Unterschiede innerhalb der Stadtgesellschaft. So hatte etwa der Bäckeramtsmeister Johann Peter Eschett 1765 fast 2.000 Reichstaler für seine Amtsmeisterstelle bezahlt[18] – was mehr als dem Zwanzigfachen des durchschnittlichen Jahresverdienstes eines Handwerksmeisters (rund 96 Reichstaler) entsprach.[19]
4. Mobilisierung der Trierer Bürgerschaft im Übergang zur Französischen Revolution – Die innerstädtischen Konflikte der Jahre 1781 bis 1791
Für die politische Repräsentation der Bürgerschaft indes blieb die geübte Verkaufspraxis naturgemäß nicht ohne Folgen, denn die durch ihre schiere Prosperität in das oberste städtische Gremium gelangten Honoratioren vertraten im Rat weniger die Interessen ihrer jeweiligen Korporation denn ihre eigenen, was in der Konsequenz im späten 18. Jahrhundert zu einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen Bürgerschaft und Magistrat führte.
Diese Entfremdung bildete in Kombination mit der weiter oben geschilderten angespannten Wirtschaftslage der Stadt und vieler ihrer Bürger schließlich am Vorabend der Französischen Revolution das Ferment für einen Komplex innerstädtischer Konflikte, welcher die Trierer Stadtgeschichte in den Jahren zwischen 1781 und 1791 maßgeblich prägte[20]. Ausgelöst wurden diese Konflikte zunächst durch eine Reihe aufgeklärt-wohlfahrtsstaatlicher Reformmaßnahmen der Landesherrschaft, welche für Widerstand in der Bürgerschaft sorgten: So lehnten die Trierer in den Jahren ab 1781 sowohl die Anlage eines neuen Friedhofs als auch die Einrichtung einer Brandversicherungsgesellschaft wegen der damit einhergehenden finanziellen Belastungen und ihres oktroyierten Charakters ab. Unterstützt wurden sie in ihrem Widerstand anfangs auch vom städtischen Magistrat, der sich gegenüber der Landesregierung mit Blick auf die geplanten Maßnahmen ebenfalls kritisch äußerte. Als sich der Magistrat jedoch im Laufe der Auseinandersetzungen schließlich auf die Seite des Landesherrn stellte und die Vorbereitungen zur Einführung der Brandversicherung gegen den Willen der Bürgerschaft weitergeführt wurden, richtete sich der Unmut verstärkt auch auf die Mitglieder des obersten städtischen Gremiums.
Von den ursprünglichen Konfliktgegenständen losgelöst, erfuhr der Widerstand im Laufe der folgenden Jahre eine Wendung ins Grundsätzliche, indem sich die Bürgerschaft in hartnäckiger Opposition nicht nur gegen den Landesherrn als übergeordnete, sondern auch gegen den Magistrat als lokale Obrigkeit wandte. Kritisiert wurden neben der landesherrlichen Willkür nun auch die Untätigkeit und Pflichtvergessenheit der Magistratsmitglieder.
Um die Konflikte zu lösen, setzte die Landesregierung schließlich im Jahr 1787 eine Untersuchungskommission ein, welche die bürgerschaftlichen Gravamina prüfen und im Berechtigungsfall für Abhilfe sorgen sollte. Doch auch die Tätigkeit dieser Kommission konnte die Auseinandersetzungen letzten Endes nicht nachhaltig sedieren, sondern verstärkte den Unmut in der Bürgerschaft sogar noch, da selbige deren Arbeitstempo für zu langsam und die erarbeiteten Lösungsansätze für unzureichend befand.
Nachdem die Untersuchungskommission ihre Ergebnisse im Herbst 1789 vorgestellt hatte, entluden sich die angestaute Enttäuschung und Verbitterung – wohl auch vor dem Hintergrund der Ereignisse im benachbarten Frankreich und im Fürstbistum Lüttich – in einem mehrtägigen Aufstand. Die Bürgerschaft versammelte sich am 23. Oktober auf dem Kornmarkt, stürmte das Rathaus und zwang den Rat und die Untersuchungskommission zur Rücknahme der gefassten Beschlüsse und zu weiteren Entscheidungen in ihrem Sinne. Erst die Intervention der Reichsjustiz vermochte es, diesen Aufstand nach gut einer Woche zu beenden. Die erzwungenen Zugeständnisse wurden annulliert und die Bürgerschaft musste Abbitte leisten. Doch auch die nun scheinbar wiederhergestellte Ruhe erwies sich letztlich als trügerisch, da die Konflikte fortschwelten und nicht eher ihr Ende fanden, bis die Obrigkeit einen neuerlichen Tumult auf dem Kornmarkt im August 1791 blutig niederschlagen ließ.
Der mehr als ein Jahrzehnt währende Konfliktkomplex indes hatte innerhalb der Bürgerschaft für eine nachhaltige Mobilisierung gesorgt. Über die mehreren Hundert Beteiligten bei den Aufläufen von 1789 und 1791 hinaus haben sich im Rahmen des skizzierten Konfliktkomplexes 134 Bürger der Landesherrschaft und dem Magistrat gegenüber namentlich als Vorsteher […] der ganzen Bürgerschaft[21] und Deputirte gesambter Zünften[22] exponiert. Eine genauere Analyse der Zusammensetzung dieser Gruppe bürgerschaftlicher Wortführer ermöglicht Einblicke in zentrale Strukturen und Entwicklungen im sozialen Gefüge der Stadt Trier in der Spätphase des Ancien Régime.
Ihrer Selbstzuschreibung nach standen dieselben kurz davor mit Frau und Kindern den Bettelstab[23] ergreifen zu müssen, wie sie im April 1785 in einem Schreiben an den Landesherrn ausführten. Überprüft man diese Selbstzuschreibung hingegen mithilfe der bereits mehrfach genannten Nahrungssteuerliste von 1784[24], dann ergibt sich ein gänzlich anderes und weit differenzierteres Bild. Die Zahlen belegen, dass die bürgerlichen Exponenten ihre wirtschaftliche Lage gegenüber dem Landesherrn deutlich dramatisiert dargestellt haben. Denn arm waren ausweislich der Steuerliste nur fünf der insgesamt 134 Bürgerschaftsvertreter und damit nur etwa 3,7 Prozent. Ganz im Gegenteil gehörte die überwiegende Mehrheit derselben sogar zu den Besserverdienern innerhalb der jeweiligen Korporationen und in einigen Fällen sogar zu den Höchstbesteuerten. So zahlten nahezu 90 Prozent derjenigen, für die ein individueller Steuerbetrag auszumachen war, mehr Nahrungsgeld als der Durchschnitt ihrer Amtsbrüder. Bezieht man neben der genannten Steuerliste aus dem Alten Reich auch die erste Steuerliste aus französischer Zeit[25] mit ein, die gegenüber jener den Vorzug hat, dass sie das Vermögen der zu Besteuernden insgesamt zur Grundlage nimmt und nicht nur ihr Einkommen, wird deutlich, dass einige der Bürgerschaftsvertreter sogar sehr reich gewesen sein müssen. Fünf von ihnen gehörten im Jahr 1800 zu den 100 höchstbesteuerten und damit reichsten Bürgern Triers. Daraus ergibt sich mit Blick auf die ökonomische Ausstattung eine grobe Dreiteilung der bürgerlichen Exponenten: eine große Mehrheit fiskalischer Leistungsträger wurde flankiert von einer jeweils kleinen Gruppe besonders armer und besonders reicher Bürger.
Signifikante Unterschiede ergeben sich indes nicht nur gruppenintern, sondern vor allem auch im Vergleich der Bürgerschaftsvertreter in ihrer Gesamtheit mit den Magistratsmitgliedern der Spätphase des Ancien Régime. Letztere bildeten nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Elite der Stadtgesellschaft und wenngleich das Gros der bürgerlichen Exponenten nicht arm war, konnten doch die wenigsten von ihnen von der ökonomischen Ausstattung her mit den Magistratsmitgliedern mithalten.
Die angedeuteten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen schlugen sich nicht zuletzt auch in der Wahl des Wohnortes nieder, wie die folgende selektive Sozialtopographie Triers im späten 18. Jahrhundert zu illustrieren vermag.[26] Verzeichnet wurden zum einen die Wohnhäuser der Magistratsmitglieder (blau) und zum anderen die der Bürgerschaftsvertreter (grün). Mit Blick auf die Wohnorte der Magistratsmitglieder fällt vor allem deren hohe Konzentration in den repräsentativsten Straßenzügen des vormodernen Triers ins Auge. Zu den bevorzugten Lagen gehörten demnach mit der Simeonsgasse (von Norden), der Neugasse (von Süden) und der Brückergasse (von Westen) in ihrer jeweiligen Verlängerung zum Hauptmarkt als städtischem Zentrum die wichtigsten Einfallstraßen in die Stadt, welche traditionellerweise zu den Wohnlagen gehörten, mit denen das höchste Maß an Sozialprestige verbunden war. Die soziale Führungsstellung als lokale Obrigkeit und wirtschaftliche Elite manifestierte sich bei den Magistratsmitgliedern also nicht zuletzt auch in der Wahl des Wohnortes. Der Repräsentation zuträglich, aber mitunter auch von pragmatischem Nutzen, war darüber hinaus der Umstand, dass die Wohnhäuser der Magistratsmitglieder häufig in der Nähe von städtischen Funktionsgebäuden wie der Steipe oder dem Rathaus lagen. Fernerhin gibt die Karte einen Eindruck vom hohen Maß an Vernetzung unter den Magistratsmitgliedern, die sich eben nicht nur auf Konnubium und die gemeinsame politische Tätigkeit stützte, sondern vielfach auch durch nachbarschaftliches Zusammenleben gestärkt wurde. Für die Wohnlagen der Bürgerschaftsvertreter hingegen ist zunächst einmal eine im Vergleich mit den Magistratsmitgliedern deutlich breitere Streuung zu konstatieren. Gemäß ihrer breit gefächerten Berufsstruktur und ihrer großen Anzahl verteilten sie sich nahezu über das gesamte bewohnte Stadtgebiet. Trotz der großen Streuung lassen sich aber auch hier einige Trends ausmachen. So ist zum einen zu beobachten, dass Mitglieder der gleichen Zunft oder des gleichen Gewerbes häufig nahe beieinander lebten, wie etwa im Fall der Wollenweber, die alle im Bereich des Weberbach ihr Wohnhaus hatten. Damit zusammenhängend ist zum zweiten festzustellen, dass die Wahl des Wohnortes in der Regel mit den beruflichen Erfordernissen zusammenhing. Mithin ist es wenig überraschend, dass beispielsweise die Schiffer fast ausnahmslos in der Krahnengasse und damit in unmittelbarer Moselnähe lebten. Fernerhin korrelierte die Lage des Wohnortes bei den Bürgerschaftsvertreten zum dritten in Maßen aber auch mit ihrem sozialen Status beziehungsweise ihrer ökonomischen Ausstattung. Die Wohlhabenderen und Reichen unter ihnen lebten demnach häufig in den gleichen Straßen wie die Magistratsmitglieder. Zwar hat es im Trier des Alten Reiches keine Milieubildung im engeren Sinne gegeben, doch lassen sich – zumindest in manchen Straßenzügen – Ansätze dazu beobachten.
Die skizzierten Befunde zur Binnengliederung der Bürgerschaftsvertreter und ihrer Verhältnisbestimmung zu den Magistratsmitgliedern legen nahe, dass die Subsistenzsicherung, welche die ältere Forschung als Hauptmovens des bürgerlichen Widerstandes ausgemacht hat[27], wohl letzten Endes nur für den kleinen Teil der armen Akteure im Vordergrund stand. Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, welche Motive und Ambitionen der große Rest mit seinem Engagement innerhalb der bürgerlichen Opposition verband?
Zu differenzieren ist bei der Beantwortung dieser Frage zwischen den beiden anderen identifizierten Subgruppen. Der großen Mehrheit der wohlhabenden, aber nicht reichen fiskalischen Leistungsträger ging es ihrem Selbstverständnis als wahre Repräsentanten der Bürgergemeinde entsprechend darum, die Interessen derselben gegen die Ein- und Übergriffe des Landesherrn und des Honoratiorenmagistrats zu wahren. Dies war der Grund für den entschiedenen Widerstand gegen jede Form der obrigkeitlichen Bevormundung, wie sie etwa zu Beginn der Konflikte in Form der Zwangsinkorporierung aller Häuser in die Brandversicherungsgesellschaft drohte. Die bürgerlichen Exponenten füllten damit jenes Repräsentationsvakuum aus, welches aus der geschilderten Verkaufspraxis der Amtsmeisterstellen resultierte.
Für die wenigen Reichen unter den Bürgerschaftsvertretern ist indes eine andere Motivlage zu konstatieren: Sie verfolgten mit ihrem Engagement in der bürgerlichen Opposition und den Klagen über die Misswirtschaft der lokalen Obrigkeit eigene politische Ambitionen, für die sie die Beschwerden der übrigen Handwerker und Tagelöhner letztlich nur instrumentalisierten. Ihre Kritik am Rat verband sich demnach mit der Hoffnung, selbst in das oberste städtische Gremium aufzusteigen, wie die Karriere des Krämers Peter Beer exemplarisch zu illustrieren vermag. Dieser hatte sich 1785 noch mit den anderen Bürgerschaftsvertretern über die Unthätigkeit der Ratsherren beklagt, wegen der man vollkommen den Muth und das Vertrauen auf den Stadt-Magistrat[28] verloren habe, nur um ein Jahr später am 22.8.1786 als Leyendeckeramtsmeister selbst in den Stadtrat einzuziehen und fortan dessen Politik mitzutragen. Beer und die anderen Reichen unter den bürgerlichen Opponenten standen den Magistratsmitgliedern von der ökonomischen Ausstattung her näher als den übrigen Bürgerschaftsvertretern. Dieser Umstand schlug sich nicht zuletzt auch in ihrer Wohnlage nieder. So lebten etwa der genannte Beer und mit den beiden Bürgerschaftsvertretern Nicolaus Süß und Paulus Müller zwei der Höchstbesteuerten von 1784 in der Simeonsgasse in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Ratsherren Balthasar Steitz, Johann Gerhard Grell, Christoph Phillip von Nell, Christoph Eschermann, Johann Peter Anton Hermes und Franz Heinrich Anton von Anethan. Um ihre Prosperität aber in politische Partizipation und sozialen Status umsetzen zu können, bedurften die reichen Bürgerschaftsvertreter eines Sitzes im Magistrat. Durch die Unterstützung der bürgerschaftlichen Kritik am Magistrat versuchten sie, dessen Mitglieder gegenüber dem Landesherrn zu desavouieren, um so möglicherweise eine Personalrochade in Gang zu setzen, die es ihnen selbst ermöglicht hätte, ihrerseits in den Rat aufzusteigen. In Rechnung zu stellen ist in diesem Zusammenhang, dass die Wartezeit auf einen Sitz im Magistrat ohne einen solchen Schnitt angesichts der lebenslangen Mandatszeit der amtierenden Ratsherren mitunter sehr lange sein konnte und die Ratsaspiranten in ihrem Engagement als bürgerliche Opponenten die Möglichkeit sahen, diese zu verkürzen.
5. Ausblick
Bald nach dem Ende der geschilderten Konflikte, am 9.8.1794, eroberten und besetzten französische Revolutionstruppen die Stadt Trier. Diese Eroberung war gleichbedeutend mit dem Ende der kurfürstlichen Herrschaft und damit dem Beginn einer neuen Epoche. Nach mehreren Jahren der Besetzung wurden Trier und das übrige Rheinland schließlich ab 1797 Teil der jungen Republik Frankreich. Die französische Herrschaft brachte eine grundlegende Neustrukturierung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung mit sich. Aus Untertanen wurden Bürger, die ständischen Schranken fielen, alle Feudalrechte wurden beseitigt, die Zünfte aufgelöst und die allgemeine Gewerbefreiheit ebenso eingeführt wie die Religionsfreiheit. Hinzu kamen die Implementierung der französischen Gerichtsordnung und die administrative Neugliederung des Rheinlandes mit der Schaffung der vier rheinischen Departements Roer-, Rhein-Mosel-, Donnersberg- und Saar-Departement, dessen Hauptstadt Trier wurde. Die politisch-administrative Neuordnung korrespondierte mit einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umstrukturierung, im Rahmen derer es in Trier zur Beschleunigung von Prozessen kam, die schon im Rahmen der Auseinandersetzungen in der Spätphase des Ancien Régime angestoßen worden waren. Die reichen, nach Teilhabe am Stadtregiment strebenden Bürgerschaftsvertreter aus kurfürstlicher Zeit konnten ihre Prosperität nun infolge der Zerschlagung der alten Ordnung auf breiterer Basis in politische Partizipation umsetzen – sechs ehemalige Bürgerschaftsdeputierte gehörten im Februar 1801 zu den Gründungsmitgliedern des unter französischer Ägide neu konstituierten Munizipalrates.
Weniger glücklich mit den neuen Verhältnissen waren indes viele der übrigen ehemaligen bürgerlichen Opponenten, wie eine Bittschrift aus dem Dezember 1797 belegt, mit der sie sich im Namen der Trierer Bürgerschaft an den französischen Regierungskommissar François Joseph Rudler (1757-1837) wandten. Voller Wehmut erinnerten sich die Bürger darin der Zeit des Alten Reiches, [...] als wir bey unserer ehemaligen Verfassung glücklich lebten, der bürgerlichen Freyheit im ganzen Umfange der Bedeutung uns freueten und nach bestimmten und sanften Gesetzen regieret wurden.[29] Offenbar hatten also nicht alle Einwohner Triers in gleichem Maße von den Neuerungen und Umstrukturierungen der französischen Zeit profitiert – wenngleich auch mit Blick auf die wehmütigen Worte der Bürgerschaftsvertreter der Zeitpunkt ihrer Äußerung in Rechnung zu stellen ist: Denn während die Anfangsjahre der französischen Herrschaft in Trier durch hohe Belastungen in Form von Kontributionen geprägt waren, entfalteten sich die maßgeblichen positiven Auswirkungen des Herrschaftswechsels erst nach der Eingliederung in den französischen Staat. Als Hauptstadt des Saar-Departements und Sitz wichtiger Justiz- und Verwaltungsbehörden nahm die Stadt in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts einen nicht unerheblichen wirtschaftlichen Aufschwung.
Quellen
Ungedruckte Quellen
Bistumsarchiv Trier (BAT): 50,23 Nr. 5: Beschreibung der Haupt- und Residentz Stadt Trier und dazu gehörigen Gebiets.
50,51 Nr. 5: Widerstand der Trierer Bürger und Zünfte gegen die Einführung der Feuerversicherung und Taxierung der Häuser (1784–1785).
Landeshauptarchiv Koblenz (LHAKo): 1C 805: Die Beschwerden der Zünfte in der Stadt Trier wegen Beeinträchtigung in ihren Privilegien, Widerstand gegen die landesherrlichen Anordnungen und deren Bestrafung (1769, 1790).
1C 814: Streitigkeiten zwischen dem Magistrat zu Trier und den Zünften über deren Privilegien und Rechte und Untersuchung durch eine landesherrlich ernannte Kommission (1786–1790).
1C 819: Acta, betreffend den, von der Bürgerschaft zu Trier wegen Nichtbewilligung oder zu langsamer Erledigung ihrer Beschwerden erregten Aufruhr, dessen Unterdrückung und neuerliche Ausgleichung der aufgestellten Forderungen. Vol. I: Oktober bis November 1789.
Stadtarchiv Trier (StAT):
Fz 344: Liste der hundert Höchstbesteuerten im Kanton sowie in der Stadt Trier, Trier o.J. [ca. 1800].
Kt: Nummer 6/107: Plan der Stadt Trier, Trier o.J. [1784]. L 7, Nr. 3: Schirmgulden und Nahrungsgeld, Stadt Trier 1784.
Stadtbibliothek Trier (StBT):
11/3767 8°: Adreßbuch der Stadt Trier 1785.
Gedruckte Quellen
Kursiv = Kurzzitierweise
Kentenich, Gottfried, Eine trierische Kleiderordnung aus dem Jahre 1794, in: Trierische Chronik 15 (1918), S. 30–31.
_ Kentenich_, Gottfried, Aus einer Trierer Familienchronik, in: Trierische Chronik 8 (1912), S. 161–171.
_ Rudolph_, Friedrich (Hg.), Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte. Kurtrierische Städte, Band 1: Trier. Mit einer Einleitung von Gottfried Kentenich und zwei Stadtplänen, Bonn 1915.
Literatur
Kursiv = Kurzzitierweise
_ Birtsch_, Günter, Soziale Unruhen, ständische Gesellschaft und politische Repräsentation. Trier in der Zeit der Französischen Revolution. 1781–1794, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 143–159.
Clemens, Gabriele B./Clemens, Lukas, Geschichte der Stadt Trier, München 2007.
Gerteis, Klaus, Sozialgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, in: Düwell, Kurt/Irsigler, Franz (Hg.), 2000 Jahre Trier, Band 3: Trier in der Neuzeit, Trier 1988, S. 61–97.
Irsigler, Franz, Wirtschaftsgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, in: Düwell, Kurt/Irsigler, Franz (Hg.), 2000 Jahre Trier, Band 3: Trier in der Neuzeit, Trier 1988, S. 99–202.
Kentenich, Gottfried, Geschichte der Stadt Trier. Von Ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Denkschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Zugehörigkeit der Stadt zum preußischen Staat, Trier 1915, Unveränderter Nachdruck Trier 1979.
Kohl, Thomas, Familie und soziale Schichtung. Zur historischen Demographie Triers 1730–1860, Stuttgart 1985.
Kohl, Thomas, Probleme der Lohn- und Preisbewegung in Trier 1730–1860, in: Friedrich, Leo [u.a.] (Hg.), Beiträge zur Trierischen Landeskunde. Unterrichtsmaterialien für Geschichte und Geographie, Trier 1979, S. 209–217.
Lager, Johann Christian, Soziale Unruhen in Trier vor der französischen Revolution, in: Trierische Chronik 8 (1912), S. 76–79, 116–120, 140–144; 9 (1913), S. 15–22, 54–57, 116–124.
Rapp, Wolf-Ulrich, Stadtverfassung und Territorialverfassung. Koblenz und Trier unter Kurfürst Clemens Wenzeslaus (1768–1794), Frankfurt am Main 1995.
Ziwes, Franz-Josef, Die Rentmeistereirechnungen und die Finanzen der Stadt Trier im 18. Jahrhundert. In: Gerteis, Klaus (Hg.), Stadt und frühmoderner Staat. Beiträge zur städtischen Finanzgeschichte von Luxemburg, Lunéville, Mainz, Saarbrücken und Trier im 17. und 18. Jahrhundert, Trier 1994, S. 417–442.
- 1: BAT 50,23: Nr. 5, S. 1.
- 2: Clemens/Clemens, Geschichte der Stadt Trier, S. 115.
- 3: Ziwes, Die Rentmeistereirechnungen und die Finanzen der Stadt Trier, S. 437-438.
- 4: Rudolph, Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, S. 782–791.
- 5: StAT, L7: Schirmgulden und Nahrungsgeld, Stadt Trier.
- 6: Kohl, Familie und soziale Schichtung, S. 211.
- 7: Kohl, Probleme der Lohn- und Preisbewegung in Trier 1730–1860, S. 214.
- 8: LHAKo 1C 814, fol. 413 [Oktober 1789].
- 9: Irsigler, Wirtschaftsgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, S. 201.
- 10: Gerteis, Sozialgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, S. 71.
- 11: Gerteis, Sozialgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, S. 65–67.
- 12: StAT L7, Nr. 3: Schirmgulden und Nahrungsgeld, Stadt Trier 1784.
- 13: Gerteis, Sozialgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, S. 68.
- 14: StBT, 11/3767 8°: Adreßbuch der Stadt Trier 1785.
- 15: Kentenich, Eine trierische Kleiderordnung aus dem Jahre 1794, S. 30-31.
- 16: Kentenich, Aus einer Trierer Familienchronik, S. 166–168.
- 17: Rapp, Stadtverfassung und Territorialverfassung, S. 85.
- 18: Rapp, Stadtverfassung und Territorialverfassung, S. 90, Anm. 95.
- 19: Kohl, Probleme der Lohn- und Preisbewegung in Trier 1730–1860, S. 213.
- 20: Birtsch, Soziale Unruhen; Kentenich, Geschichte der Stadt Trier, S. 598–606; Lager, Soziale Unruhen in Trier vor der französischen Revolution.
- 21: BAT 50,51: Nr. 5, S. 85f.
- 22: LHAKo 1C 819, fol. 191r.
- 23: LHAKo 1C 805, fol. 38r.
- 24: StAT L7, Nr. 3.
- 25: StAT Fz 344.
- 26: Kartengrundlage: StAT, Kt 6/107; Wohnhäuser verzeichnet nach StBT 11/3767 8°.
- 27: Birtsch, Soziale Unruhen, S. 149.
- 28: LHAKo 1C 805, fol. 39r, 41r.
- 29: Kentenich, Geschichte der Stadt Trier, S. 632–634.
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Kugel, Daniel, Die Sozialstruktur Triers in der Spätphase des Alten Reiches, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-sozialstruktur-triers-in-der-spaetphase-des-alten-reiches/DE-2086/lido/5bd6f958190411.18013191 (abgerufen am 10.10.2024)