„Vorsorgliche Umquartierung“. Die (Erweiterte) Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg
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1. Erscheinung des modernen Luftkriegs
Zu den Kriegsereignissen im Zweiten Weltkrieg auch im rheinisch-westfälischen Industriegebiet gehört die massenweise Evakuierung von Kindern im Rahmen der Erweiterten Kinderlandverschickung, kurz KLV genannt. Sie wurde aufgrund eines durch Rundschreiben vom 27.9.1940 verbreiteten „Führerbefehls“ Adolf Hitlers (1889-1945) angeordnet.[1] Diese Evakuierungsmaßnahme war seinerzeit jedoch in erster Linie aus psychologischen Gründen befohlen worden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte nämlich noch niemand und konnte auch noch niemand ahnen, was für verheerende Ausmaße der am 15.5.1940 begonnene strategische Luftkrieg der Alliierten gegen das Deutsche Reich im Verlauf des Kriegs annehmen würde. Mit Einrichtung der KLV wollte das Regime hauptsächlich beruhigend auf die durch die zunehmenden Luftalarme und die ersten Bombenabwürfe auf deutsche Städte aufgeschreckte Zivilbevölkerung einwirken.[2]
Die KLV wie auch die sonstigen kriegsbedingten Evakuierungen großen Stils der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg sind eine Erscheinung der modernen, durch den massiven Einsatz der Luftwaffe gegen zivile Ziele gekennzeichneten Kriegsführung und wurden damals erstmals praktiziert. Anders als noch im Ersten Weltkrieg, als sich das eigentliche Kampfgeschehen auf eine mehr oder weniger breite Frontlinie beschränkte, war im Zweiten Weltkrieg die Zivilbevölkerung in Deutschland direkt und in einem bisher nie da gewesenen Ausmaß von dem Kampfgeschehen betroffen.[3] Die KLV war eine Maßnahme der NSDAP beziehungsweise sollte es zumindest nach dem Willen der obersten Partei- und Staatsführung sein. Ihre Durchführung übernahmen die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt), die HJ (Hitler-Jugend) und der NSLB (NS-Lehrerbund). Wie es in dem Rundschreiben vom 27.9.1940 ausdrücklich heißt, sollte die Aktion jedoch auf der Grundlage der Freiwilligkeit durchgeführt werden. Zu den Städten beziehungsweise Gebieten, für die im Hinblick auf ihre Luftkriegsgefährdung die Durchführung der KLV als erstes angeordnet wurde, gehörten außer Berlin und Hamburg sowie dem Nordseebereich des heutigen Bundeslandes Niedersachsen auch das rheinisch-westfälische Industriegebiet.[4]
2. KLV-Aufnahmegebiete
Das erwähnte Rundschreiben vom 27.9.1940 legte als so genannte „Aufnahmegebiete“ beziehungsweise „Aufnahmegaue“ für die KLV-Maßnahmen vorwiegend abgelegene, ländliche, vielfach aber bereits schon vom Fremdenverkehr erschlossene Gebiete fest, und zwar zunächst Hessen, Baden/Württemberg, die damalige Bayerische Ostmark, die Mark Brandenburg, Oberdonau (Oberösterreich), Sachsen, Schlesien, das Sudetenland, Mecklenburg, Thüringen und das Wartheland. Der Kreis der Aufnahmegebiete ist in der Folgezeit jedoch auf Grund der Verschärfung und Ausweitung des Luftkriegs mehrfach verändert und erweitert worden. KLV-Verschickungen erfolgten in immer weitere und auch außerhalb des Deutschen Reichsgebiets (in den Grenzen von 1933) gelegene Regionen: in das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“, nach Mährisch-Schlesien, Danzig-Westpreußen, in den Warthegau sowie in das aus dem polnischen Reststaat gebildete „Generalgouvernement“, aber auch nach Lettland, Dänemark, in die Niederlande, nach Frankreich (Elsass-Lothringen), in das Großherzogtum Liechtenstein, nach Ungarn, Bulgarien und Jugoslawien beziehungsweise die seit Ende 1940 selbstständige und mit dem Deutschen Reich verbündete Slowakei.
Nach den während des Krieges bestehenden (neuen) Grenzen des Deutschen Reichs galten Österreich, das Sudetenland, Elsass-Lothringen, Danzig-Westpreußen und der Warthegau allerdings nicht als Ausland. Im Balkanraum wurden überdies die KLV-Lager vor allem in den großen deutschsprachigen Siedlungsgebieten Siebenbürgen, Banat, Batschka, Fünfkirchen, Zips und anderen eingerichtet und hier die KLV aber zum Teil auch als Familienunterbringung durchgeführt.[5]
3. Die KLV als Binnenwanderung
Was Ende 1940 als eine räumlich begrenzte und - zumal seitens der deutschen Führung seinerzeit mit keiner langen Kriegsdauer gerechnet wurde - auch nur als kurzfristig vorgesehene, vorwiegend psychologisch motivierte Vorsorgemaßnahme begann, sollte sich bis Kriegsende zu einer der größten Binnenwanderungen in der bisherigen Geschichte der Menschheit ausweiten. Im Verlauf des Kriegs und als Reaktion auf die immer verheerenderen Bombenangriffe auf die deutschen Städte sind nämlich sämtliche Großstadtregionen im westlichen Reichsgebiet von der KLV-Aktion erfasst worden.[6]
Über den zahlenmäßigen Umfang der im Rahmen der KLV während des Zweiten Weltkriegs evakuierten Kinder gibt es allerdings keine gesicherten Angaben. Einem Vermerk des Ministerialrats Schmidt-Schwarzenberg über eine Besprechung mit dem Reichshauptamtsleiter Willy Damson (1894-1944) von der Reichsschatzmeisterei der NSDAP vom 20.2.1941 zufolge waren bis dahin auf Reichsebene rund 320.000 Kinder durch die KLV verschickt worden.[7] Insgesamt sollen nach Schätzungen des letzten Leiters der Reichsstelle-KLV, Gerhard Dabel (geboren 1916), im Deutschen Reich bis Kriegsende etwa 2,8 Millionen Mädchen und Jungen im Alter von zehn bis 18 Jahren in bis zu 9.000 KLV-Lager verschickt worden sein. Dazu kämen schätzungsweise noch etwa 3 Millionen im Rahmen der KLV evakuierte sechs- bis zehnjährige Kinder, Kleinkinder und Mütter.[8] Neuere Untersuchungen gehen jedoch von einer niedrigeren Gesamtzahl der KLV-Verschickten aus. Nach einer der jüngsten Veröffentlichungen soll die aber immerhin noch gewaltige Zahl von über 2 Millionen Kindern im Rahmen der KLV während des Zweiten Weltkriegs "umquartiert" worden sein, wie der amtliche Ausdruck damals hieß.[9]
4. Drei Gruppen innerhalb der KLV
Bei den von der KLV erfassten Personen unterschied man von Anfang an drei Gruppen: 1. Mütter mit Kleinkindern, die vornehmlich auf dem Land bei Familien Unterkunft fanden, 2. Kinder bis zu zehn Jahren, die ausschließlich in so genannte Pflege- oder Gastfamilien gegeben wurden und die Schule am Aufnahmeort besuchten, und 3. Jugendliche ab zehn Jahren bis zum jeweiligen Schulabschluss, die möglichst klassen- oder schulweise verschickt und grundsätzlich in KLV-Lagern untergebracht und dort auch von den mitverschickten Lehrkräften ihrer Heimatschule beziehungsweise ihres Heimatorts unterrichtet werden sollten.[10]
Bei den als Lager dienenden Unterkünften handelte es sich um die unterschiedlichsten Einrichtungen hinsichtlich Art und Größe. Sie reichten von kleinen Pensionen bis zu großen Hotels, von einfachen Jugendherbergen bis zu komfortablen Kursanatorien.[11] Nachdem man ab dem (Früh-)Sommer 1943 im Rahmen der Räumung luftkriegsbedrohter Städte zur Verlegung ganzer Schulsysteme überging, war angesichts der gewaltigen Zahlen zu verschickender Kinder eine vollständige lagermäßige Unterbringung aber endgültig illusorisch geworden. Daher mussten auch die über Zehnjährigen häufig in Familienpflegestellen untergebracht werden.[12] Doch gab es gerade in ausgesprochenen Ferien- und Kurorten Probleme, genügend Privatquartiere für die verschickten Kinder und Jugendlichen zu beschaffen. Wie beispielsweise die Schüler der seit Ende August 1943 nach Bad Mergentheim in Württemberg verlegten Duisburger Steinbart-Oberschule erlebten, nahmen die Inhaber von Pensionen und diejenigen Familien, die Zimmer zur Verfügung hatten, allgemein lieber gut zahlende Kurgäste auf.
Für den Transport aller drei KLV-Gruppen sowie außerdem für die Unterbringung der vorschulpflichtigen Kinder und der Kinder der ersten vier Schuljahre in den Pflege- beziehungsweise Gastfamilien war die NSV zuständig. Um die Unterbringung der Kinder vom fünften Schuljahr an kümmerte sich dagegen die HJ.
5. Zwei Phasen
Die KLV-Aktion im Zweiten Weltkrieg weist zwei zu unterscheidende Phasen auf. In der ersten, von Ende 1940/Anfang 1941 bis zum Frühjahr/Sommer 1943 reichenden Phase, erfolgte die Teilnahme an der KLV nicht nur in der Theorie, sondern weitgehend auch in der Praxis aufgrund freiwilliger Meldung. Da jedoch zumeist nur einige Mädchen und Jungen aus einzelnen Klassen für die KLV gemeldet wurden, kam es in dieser Zeit erst gegen Ende und nur in Einzelfällen zur Verschickung ganzer Klassen oder gar Schulen. Das änderte sich in der zweiten Phase ab dem Frühjahr/Sommer 1943. Nunmehr erfolgte als Reaktion auf die sich verschärfende alliierte Luftoffensive im Rahmen der nochmals erweiterten KLV verstärkt die bereits in dem Rundschreiben vom 27.9.1940 als wünschenswert bezeichnete Verlegung ganzer Klassen und Schulen auch tatsächlich und in größerem Umfang. Die Rechtsgrundlage dafür bildete ein vom 4.6.1943 datierendes Rundschreiben Baldurs von Schirach (1907-1974) als „Beauftragter des Führers für die KLV“.[13]
Darin wurde festgestellt, dass die Lage in den besonders Luftkriegs bedrohten Gebieten des Deutschen Reichs „Maßnahmen für den Schutz und die Erziehung der Jugend“ erfordere, die den bisherigen Einsatz der KLV erweiterten und verstärkten. Um aber trotz der Ausweitung der KLV eine „ordnungsgemäße Schulausbildung“ auch in Zukunft zu gewährleisten, heißt es darin weiter, sollten in Zukunft möglichst nur noch ganze Schulen verschickt werden. Die Anordnung einer solchen allgemeinen Schulverlegung in Luftkriegs bedrohten Orten erfolgte durch den zuständigen Gauleiter, und zwar aufgrund der ihm als Reichsverteidigungskommissar in seinem Gaugebiet zustehenden Befugnis, bei Gefahr direkter Kampfeinwirkung in dem betreffenden Gebiet Maßnahmen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung zu veranlassen.[14]
Die praktische Umsetzung geschah beispielsweise im Gau Essen, wo der Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Josef Terboven Ende Juni 1943 die Schließung und Verlegung sämtlicher allgemein bildender Schulen für bestimmte Städte angeordnet hatte, auf die Weise, das der zuständige Regierungspräsident in Düsseldorf durch einen Schnellbrief vom 30.6.1943 die Oberbürgermeister der betroffenen Städte aufforderte, „mit größter Beschleunigung“ zur „Förderung der Schulverlegung“ eine entsprechende Polizeiverordnung zu erlassen. Ein Muster für eine solche Polizeiverordnung war dem Schreiben beigefügt. Gleichzeitig wurden die Oberbürgermeister angewiesen, auch „etwaige Rechtsbedenken“ dabei zurückzustellen.[15]
Ein nur zehn Tage nach dem Rundschreiben von Schirachs vom 4.6.1943 erfolgter Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ordnete sodann an, dass in den Orten im Luftkriegsgebiet, aus denen alle Schulen einer bestimmten Schulart im Rahmen der KLV verlegt worden seien, der öffentliche Unterricht der betreffenden Schulart eingestellt werden müsse.[16] In den von dieser Maßnahme betroffenen Städten war die Freiwilligkeit der Teilnahme an der KLV weitgehend theoretischer Natur. Wer nicht die Möglichkeit besaß, seine Kinder bei Verwandten oder Bekannten in einer nicht Luftkriegs gefährdeten Gegend unterzubringen, musste sie, wenn er sich nicht des Verstoßes gegen die nach wie vor bestehende gesetzliche Schulpflicht schuldig machen oder seinen Kindern die Fortsetzung ihrer Schulbildung verwehren wollte, zwangsläufig mit ihrer Schule in die KLV fahren lassen. Hinzu kam der von Partei und Behörden auf die Eltern ausgeübte mehr oder weniger massive Druck.
Mit den geschlossenen Schulen sollten nach Möglichkeit aber auch die nicht arbeitsmeldepflichtigen Mütter und die jüngeren Geschwister im Rahmen der „allgemeinen Umquartierung“ aus den betroffenen Städten verschickt werden.[17]
6. Elternwiderstand und behördlicher Druck
Die KLV, vor allem aber die Schulverlegung, ist in der Bevölkerung auf weit verbreitete und teilweise sogar energische Ablehnung der Eltern gestoßen. „Der Widerstand der Elternschaft ist erheblich“, heißt es in einem Schreiben vom 4.5.1943 des Schulrats für die Schulaufsichtsbezirke Essen II und III an den zuständigen Regierungspräsidenten in Düsseldorf.[18] Im Volksmund hieß die KLV daher auch „Kinderlandverschleppung“. Der Widerstand gegen die KLV war sowohl politisch als auch religiös und fürsorglich motiviert.
In der Anfangszeit haben zumindest die höheren Staats- und Parteistellen aber tatsächlich darauf geachtet, dass bei den vorsorglichen Evakuierungsmaßnahmen generell kein Zwang angewandt wurde. So teilte zum Beispiel der Regierungspräsident in Münster im September 1943 dem Schulrat in Bottrop auf dessen Anfragen unter anderem mit, dass eine Bestrafung der Eltern, die sich weigerten, ihre Kinder zu verschicken, „nicht in Erwägung gezogen (wird)“[19] . Später sind Eltern aber auch durch indirekten wie auch direkten Druck beziehungsweise mit behördlichen Zwangsmaßnahmen insbesondere lokaler Stellen[20] dazu gedrängt worden, ihre Kinder an der KLV teilnehmen zu lassen. Aus Oberhausen etwa wurde im Spätfrühjahr 1943 berichtet, dass der Schulleiter einer dortigen Volksschule im Rahmen der Werbung für die KLV alle zwei Wochen die noch nicht zur Verschickung gemeldeten Kinder mit ihren Eltern zu sich vorlud und zur Teilnahme an der KLV drängte. Damit erfüllte er aber auch eine Anweisung des zuständigen Schulrats, der sich laut Angabe in der Schulchronik „ebenfalls für eine schnelle und vollständige Evakuierung der Schuljugend voll und ganz einsetzte“.[21]
Vor allem, als im Frühjahr/Sommer 1943 die „geschlossene Umquartierung“ aller allgemein bildenden Schulen in den Ruhrgebietsstädten erfolgte, wurde seitens der zuständigen Stellen kein Argument und kein Mittel ausgelassen, um die Eltern zur Teilnahme an dieser bis zum Schluss zumindest formal freiwilligen Aktion zu veranlassen. So ist zum Beispiel in Bochum versucht worden, das städtische Verwaltungspersonal, soweit es Kinder hatte, durch Einschüchterung dazu zu bewegen, seine Kinder durch die KLV verschicken zu lassen. Zu diesem Zweck forderte der Oberbürgermeister der Stadt Bochum in einem Rundschreiben vom 16.10.1943 alle Dezernenten, Amtsvorsteher und Dienststellenleiter auf, bei sämtlichen verheirateten Beamten, Angestellten und Arbeitern ihres Zuständigkeitsbereichs feststellen zu lassen, ob sie Kinder hätten, und wenn ja, wo sich diese zur Zeit befänden. Die Listen waren dem Oberbürgermeister einzureichen. Dieses Vorgehen erfolgte, wie es deutlich drohend in dem Schreiben heißt, „um einen Überblick zu bekommen, inwieweit aber auch städtische Beamte, Angestellte und Arbeiter gegen diese Maßnahmen [= Schulverlegung durch die KLV] verstoßen haben“. Am 21.12.1944 wurde die Aktion wiederholt. Hier heißt es in dem Rundschreiben zur Begründung noch unmissverständlicher, es solle auf diesem Weg ermittelt werden, in welchem Ausmaß auch von städtischen Bediensteten die angeordneten vorsorglichen Evakuierungsmaßnahmen „sabotiert“ worden seien.[22]
7. Auswege
Allerorts in den von der drohenden oder bereits begonnenen Schulverlegung betroffenen Ruhrgebietsstädten haben Eltern im Frühjahr und Sommer 1943 aber auch versucht, ihre Kinder vor der KLV dadurch zu bewahren, dass sie diese in von der Schulschließung nicht berührte Nachbarorte ummeldeten. So berichtete der Schulrat von Essen V und VI am 8.9.1943 an den Oberbürgermeister, dass „sehr viele Eltern“ in den Vormonaten ihre schulpflichtigen Kinder auf derartige Weise in Volksschulen benachbarter Orte, unter anderem in Kettwig und Altendorf (heute beide Stadt Essen), untergebracht hätten. Nach den Erkenntnissen des Schulrats handelte es sich dabei jedoch häufig um reine Schein-Ummeldungen, und die Schulkinder legten tatsächlich jeden Tag den Schulweg vom Elternhaus in Essen zu dem neuen Schulort zurück. Daneben wurde auch hier beobachtet, dass „sehr viele Kinder“ aus der KLV nach Essen zurückkehrten.[23]
Ein anderer - legaler - Ausweg für die Eltern war, ihre Kinder zu Verwandten in nicht Luftkriegs bedrohte oder von der Räumung nicht erfasste Orte und Gegenden zu bringen. Eine derartige Verwandtenverschickung (so genannte „freie Verschickung“) wurde von der Staats- und Parteiführung wie auch von der KLV-Organisation durchaus begrüßt und unterstützt. So wurden in der von dem Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen zur Beförderung der KLV-Schulverlegung erlassenen örtlichen Polizeiverordnung vom 7.7.1943 die Eltern aufgefordert, nach der erfolgten Schließung sämtlicher allgemein bildender Schulen in der Stadt ihre Kinder entweder für die KLV-Aktion anzumelden, „oder bei Verwandten auswärts unterzubringen“.[24] In Fällen der Privat-Evakuierung zu Verwandten aller drei für die KLV in Frage kommenden Gruppen leistete die KLV-Organisation daher praktische und nicht zuletzt finanzielle Hilfe, unter anderem durch die Übernahme der Reisekosten.[25] Nach einem Runderlass vom 11.8.1943 des Reichsministers des Innern sollte bei allen Evakuierungsmaßnahmen aus den Luftkriegs gefährdeten Gebieten des Reichs und somit auch bei den im Rahmen der Verwandtenhilfe erfolgenden Verschickungen überdies der Begriff der Verwandtschaft nicht eng, sondern „nach dem landläufigen Sprachgebrauch“ ausgelegt werden.[26] Diese Bestimmung haben sich zahlreiche Eltern zunutze gemacht und ihre Kinder auch zu angeblichen Verwandten in Sicherheit gebracht.
8. Keine totale Verschickung
Tatsächlich sind in den akut Luftkriegs bedrohten und von einem Räumungsbefehl einschließlich der Schulevakuierung betroffenen Städten während des Kriegs aber zahlreiche schulpflichtige Volksschulkinder und auch nicht mehr schulpflichtige Schülerinnen und Schüler der Mittel- sowie Oberschulen trotz aller Anordnungen und Drohungen einfach von ihren Eltern von der KLV zurück- und zu Hause behalten worden. Auch die im Frühjahr 1943 einsetzenden schweren Luftangriffe auf das rheinisch-westfälische Industriegebiet vermochten offenbar sogar in der Gauhauptstadt des NS-Gaus Westfalen-Süd, Bochum, die skeptische Haltung vieler Eltern gegenüber der KLV nicht vollständig zu beseitigen. Nach den zu ermittelnden Zahlen sind im Verlauf des Kriegs aus der Stadt Bochum nämlich nur etwa 40 Prozent der Schulkinder durch die KLV verschickt worden. Ein etwa gleich großer Prozentsatz, rund 16.000 Schulkinder, wurde im Rahmen der so genannten „freien Umquartierung in Selbsthilfe“, vorwiegend in Form der Verbringung zu Verwandten und Bekannten, in nicht Luftkriegs gefährdete Gebiete gebracht. In der Stadt selbst verblieben dann aber bis zum Kriegsende - widerrechtlich - immer noch etwa 6.000 Schulkinder, die natürlich auch keinen Unterricht erhielten.[27] Der Anteil von bis zu etwa 50 Prozent der in die KLV verschickten Schülerschaft und von einem etwa gleich großen Prozentsatz der durch private Evakuierung in „sichere“ Gebiete Ausgewichenen dürfte eine weit verbreitete Situation darstellen.[28]
Eine vollständige Evakuierung der Kinder, auch der nicht schulpflichtigen, hat es in keiner von der allgemeinen Räumung und damit verbundenen Schulverlegung betroffenen Stadt in der rheinisch-westfälischen Region gegeben. In Gelsenkirchen-Buer zum Beispiel weigerten sich nach amtlichen Angaben vom 23.8.1943 die Eltern von insgesamt 37 Prozent der Schülerinnen und Schüler an den örtlichen Volks-, Mittel- und höheren Schulen rundweg, ihre Kinder im Rahmen der KLV verschicken zu lassen.[29] Der SD-Bericht vom 10.2.1944 über „Neue Erfahrungen bei der Evakuierung der Kinder aus den Luftkriegsgebieten und der Verlegung der Schulen“ stellt dann auch nüchtern fest, dass trotz der vorausgegangenen mehrwöchigen nachdrücklichen Werbekampagne von Partei, HJ, den Dienststellen der KLV und den Schulen für die Teilnahme an der KLV sich immer noch „ein erheblicher Teil“ der Eltern nicht zur Verschickung ihrer Kinder bereit fand.[30]
9. Die KLV als fürsorglicher Akt?
9.1 Erholung und Schutz
Von der NS-Propaganda wurde die KLV-Maßnahme lange als eine großartige und großzügige Freizeit- und Erholungsmaßnahme dargestellt.[31] Ein im Sommer 1943 in den Zeitungen im rheinisch-westfälischen Gebiet veröffentlichter Bericht pries die (Erweiterte) KLV als „eine der größten sozialen Maßnahmen“ der NSDAP.[32] Bereits im Herbst 1941 hatte der „Beauftragte des Führers für die KLV“, Reichsleiter Baldur von Schirach, die Verschickungsmaßnahme als „das größte Jugenderholungswerk der Welt“ bezeichnet. Exakt dieser Ausdruck „größtes Jugenderholungswerk“ für die (Erweiterte) KLV findet sich auch in einer am 14.9.1941 von dem Deutschen Nachrichtenbüro in Berlin verbreiteten Meldung.[33] Auch als Anfang 1943 in den rheinisch-westfälischen Zeitungen besonders eifrig für die Teilnahme an der KLV geworben wurde, standen der Ferien- und Erholungscharakter der Verschickung immer noch im Vordergrund. Wie intensiv in der Presse seinerzeit für die Teilnahme an der KLV-Aktion geworben wurde, bezeugt unter anderem die Feststellung, dass allein die „National-Zeitung“ in Essen während der vier Jahre insgesamt rund 2.000 Beiträge zum Thema KLV veröffentlichte.[34]
Doch ab Herbst 1944 wurde als Reaktion auf die sich für Deutschland zur Katastrophe entwickelnden Luftkriegslage in der KLV-Werbung der Luftschutzcharakter der Verschickung direkt ausgesprochen und auch herausgestellt. Zugleich gestaltete sich die Werbung immer aggressiver.[35] Vor allem auch in der Rhein-Ruhr-Region wurde nunmehr unter anderem mit Hilfe von eindringlichen Plakaten und Flugblättern unter Hinweis auf die große Gefahr eines weiteren Verbleibens in den gefährdeten Städten massiv für eine Verschickung der Kinder geworben beziehungsweise energisch dazu aufgefordert. So verkündete ein Plakat auf blutrotem Hintergrund: „Der Luft-Terror geht weiter - Mütter schafft Eure Kinder fort!“.[36] Ein Handzettel mit der fett und groß gedruckten Überschrift „An alle, die es angeht“ endet mit der optisch ebenso hervorgehobenen Aufforderung an die Eltern „Rettet rechtzeitig das Leben Eurer Kinder! Bringt Eure Kinder fort!“.[37]
9.2 NS-ideologische Erziehung
Doch weder die Erholung noch der Schutz der Kinder waren für das NS-Regime der eigentliche und vorrangige Zweck der KLV-Maßnahme. Diese Aspekte wurden nur zwangsläufig durch die Kriegsereignisse in den Vordergrund gerückt. Nach dem Willen der NS-Machthaber sollte die KLV vor allem der gezielten und intensiven weltanschaulichen Erziehung der Jugend im Sinne des Nationalsozialismus dienen. Dass die direkte NS-weltanschauliche Indoktrinierung der eigentliche Zweck der KLV-Aktion und auch vom Regime gewollt war, bezeugen die 1940 erstmals und 1943 in der vierten Ausgabe herausgekommenen „Anweisungen für Jungen- und Mädellager“ der erweiterten Kinderlandverschickung. In ihnen wird nämlich auch die weltanschauliche Schulung in den KLV-Lagern detailliert vorgeschrieben. Das von dem damaligen Reichsjugendführer Arthur Axmann (1913-1996) persönlich unterzeichnete Vorwort nennt zudem unmissverständlich die ideologische Zielsetzung des KLV-Lageraufenthalts. Es heißt dort: „Grundsatz unserer Lagerführung der Erweiterten Kinderlandverschickung ist die Erziehung des Pimpfes und des Jungmädels zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“.
Der längerfristige Aufenthalt in einem Lager, wo die Kinder und Jugendlichen von anderen, konkurrierenden Erziehungsmächten wie Elternhaus und Kirche abgeschnitten waren, bot für eine solche totale Indoktrinierung die besten Voraussetzungen. Die mit der organisatorischen Durchführung der KLV-Lager für die Kinder ab zehn Jahren beauftragte HJ bekam so die Möglichkeit, die heranwachsende Generation in der geschlossenen Sozialform des Lagers massiv im nationalsozialistischen Sinn zu ideologisieren. Hier konnte sie ihre Erziehungsaufgabe voll ausspielen, die ihr sogar offiziell durch das Gesetz über die Hitler-Jugend vom 1.12.1936 zugewiesen worden war. Diese Möglichkeit ist von der HJ auch genutzt worden. Den Lehrern wurde zwar die Leitung der KLV-Lager übertragen. Für den gesamten außerunterrichtlichen Bereich waren jedoch ausschließlich die HJ-Lagermannschaftsführer beziehungsweise BDM-Lagermädelführerinnen zuständig.[38] Allerdings klafften auch hier Norm und Praxis in den einzelnen Lagern mehr oder weniger weit auseinander.[39]
Andererseits muss auch festgehalten werden, dass durch die KLV mehrere 100.000 Kinder und Jugendliche aus den von Luftalarmen und Bombenangriffen betroffenen (Groß-)Städten herausgebracht wurden und so vor noch größeren physischen und psychischen Schäden bewahrt worden sind.
Quellen
„Anweisungen für Jungen- und Mädellager“, 3. Ausgabe, 1942.
Bericht „Das große Geschenk der Partei“, in: Westfälische Landeszeitung - Rote Erde (Dortmund) vom 12.8.1941.
Bundesarchiv Potsdam, Akte R 2/11914.
Chronik der Feldmann-Schule in Alt-Oberhausen: Stadtarchiv Oberhausen, Akte 40-298, S. 198.
KLV-Handzettel „An alle, die es angeht“ „Rettet rechtzeitig das Leben Eurer Kinder! Bringt Eure Kinder fort!“, 1944, Exemplar im Stadtarchiv Witten, Kriegschronik.
KLV-Plakat „Der Luft-Terror geht weiter - Mütter schafft Eure Kinder fort!“, 1944, Exemplar im Stadtarchiv Herne.
Meldung des Deutschen Nachrichtenbüros Berlin vom 14.9.1941, zitiert nach der Veröffentlichung in der Dortmunder Tageszeitung „Tremonia“ vom 15.9.1941- Exemplar des Artikels in der Dortmunder Kriegschronik: Stadtarchiv Dortmund, Best. 424 Nr. 21 S. 49
Rundschreiben vom 5.6.1943 der NSDAP-Reichsleitung: Hauptamt für Volkswohlfahrt - Amt für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe an die Gauwaltungen - Exemplar im Stadtarchiv Bochum, Akte 40/41 (1-2). Runderlass vom 15.6.1943 - Exemplar im Stadtarchiv Bochum, Akte 40/41 (1-2).
Rundschreiben (Abschrift) vom 19.6.1943 der Reichsjugendführung - Exemplar im Stadtarchiv Bochum, Akte BO 40/41 (1-2).
Rundschreiben (Druckexemplar) vom 21.6.1943 des „Beauftragten des Führers für die Inspektion der Hitler-Jugend und Reichsleiters der Jugenderziehung der NSDAP“, Dienststelle KLV - Exemplar im Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen: Gauleitung Westfalen-Nord, Gauamt für Volkswohlfahrt Nr. 648, Band 2.
Rundschreiben des Bochumer Oberbürgermeisters vom 16.10.1943 beziehungsweise 21.12.944: Stadtarchiv Bochum, Akte BO 71/3. Schreiben des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, vom 9.5.1945 an die britische Militärregierung in Münster, abgedruckt in: Löffler, Peter (Bearb.), Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, Band 2: 1939-1946, 2. Auflage, Paderborn u. a. 1996, S. 1126-1127.
SD-Bericht vom 30.9.1943, abgedruckt in: Boberach, Heinz (Hg.), Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945, Band 15, Herrsching 1984, S. 5827-5832.
SD-Bericht vom 10.2.1944, in: Boberach, Heinz (Hg.) Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945, Band 16, Herrsching 1984, S. 6315-6318, hier: S. 6315.
Stadtarchiv Essen, Akte 45-4035.
Stadtarchiv Gelsenkirchen, Akte 0/XXI 15 c 1.
Stadtarchiv Hagen, Abschrift, Akte 11319.
Stadtarchiv Oberhausen, Akte Abteilung 40-131.
Tätigkeitsbericht der Stadt Bochum für Mai - Dezember 1945 sowie Verwaltungsbericht der Stadt Bochum 1938 - 1948, beide: Stadtarchiv Bochum, Akte BO 40/4.
Literatur
Beer, Wilfried, Kriegsalltag an der Heimatfront, Bremen 1990.
Dabel, Gerhard, KLV – Die erweiterte Kinder-Land-Verschickung. KLV-Lager 1940-1945, Freiburg 1981.
Gehrken, Eva, Nationalsozialistische Erziehung in den Lagern der Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945, Gifhorn 1997.
Hüttenberger, Peter, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969.
Kock, Gerhard, „Der Führer sorgt für unsere Kinder…“ Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a. 1997.
Lang, Gabriele, Kinderlandverschickung klingt so nett. Die Schülerinnen der Maria-Wächtler-Schule in den Kriegsjahren 1941-1945, in: Breyvogel, Wilfried (Hg.), Mädchenbildung in Deutschland. Die Maria-Wächtler-Schule 1896-1996, Essen 1996, S. 151-173.
Schirach, Baldur von, Ich glaubte an Hitler, Hamburg 1967.
Online
Solbach, Gerhard A., Der große Abschied. Die erweiterte Kinderlandverschickung (KLV), in: historicum.net. [Online]
- 1: Abgedruckt bei Dabel, KLV, S. 7.
- 2: von Schirach, Hitler, S. 269.
- 3: Beer, Kriegsalltag, S. 9.
- 4: Dabel, KLV, S. 24.
- 5: Dabel, KLV, S.253.
- 6: Dabel, KLV, S.253.
- 7: Bundesarchiv Potsdam, Akte R 2/11914 Blatt 123; auch Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder…“,S. 137.
- 8: Dabel, KLV, S. 24.
- 9: Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder…“, S. 143.
- 10: Dabel, KLV, S. 6.
- 11: Dabel, KLV, S. 7.
- 12: Rundschreiben Reichsjugendführung vom 19.6.1943.
- 13: Rundschreiben Baldurs von Schirach vom 21.6.1943.
- 14: Hüttenberger, Die Gauleiter, S. 169; sowie SD-Bericht vom 30.9.1943, in: Boberach, Meldungen, S. 5827.
- 15: Stadtarchiv Oberhausen, Akte 40-131.
- 16: Runderlass vom 15.6.1943.
- 17: Rundschreiben der NSDAP-Reichsleitung vom 5.6.1943.
- 18: Stadtarchiv Essen, Akte 45-4035.
- 19: Stadtarchiv Gelsenkirchen, Akte 0/XXI 15 c 1.
- 20: Schreiben des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, vom 9.5.1945.
- 21: Chronik der Feldmann-Schule in Alt-Oberhausen: Stadtarchiv Oberhausen, Akte 40-298, S. 198.
- 22: Rundschreiben des Bochumer Oberbürgermeisters vom 16.10.1943 beziehungsweise 21.12.1944.
- 23: Stadtarchiv Essen, Akte 45-4035.
- 24: Stadtarchiv Oberhausen, Akte 40-131.
- 25: Stadtarchiv Hagen, Abschrift, Akte 11319.
- 26: Dabel, KLV, S. 6.
- 27: Tätigkeitsbericht der Stadt Bochum für Mai - Dezember 1945 sowie Verwaltungsbericht der Stadt Bochum 1938 – 1948.
- 28: Lang, Kinderlandverschickung, S. 151-152.
- 29: SD-Bericht vom 30.9.1943, in: Boberach, Meldungen, Band 15, S. 5831.
- 30: SD-Bericht vom 10.2.1944.
- 31: Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder…“, S. 177 und S. 183.
- 32: Bericht „Das große Geschenk der Partei“ vom 12.8.1941.
- 33: Meldung des Deutschen Nachrichtenbüros Berlin vom 14.9.1941.
- 34: Dabel, KLV, S. 161.
- 35: Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder…“, S. 177, 180 und S. 183-184.
- 36: KLV-Plakat „Der Luft-Terror geht weiter - Mütter schafft Eure Kinder fort!“, 1944.
- 37: KLV-Handzettel 1944.
- 38: „Anweisungen für Jungen- und Mädellager“, 1942.
- 39: Zu der Gesamtthematik: Gehrken, Nationalsozialistische Erziehung.
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Sollbach, Gerhard E., „Vorsorgliche Umquartierung“. Die (Erweiterte) Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/vorsorgliche-umquartierung.-die-erweiterte-kinderlandverschickung-im-zweiten-weltkrieg/DE-2086/lido/57d1383ad7bdd8.16458782 (abgerufen am 14.12.2024)