Otto Bräutigam

Jurist und Diplomat (1895-1992)

René Schulz (Bonn)

Porträt Otto Bräutigam aus späteren Jahren, undatiert.

Der Ju­rist und Di­plo­mat Ot­to Bräu­ti­gam war wäh­rend der Wei­ma­rer Re­pu­blik  und des „Drit­ten Rei­ches“ lei­ten­der Mi­nis­te­ri­al­be­am­ter im Aus­wär­ti­gen Am­t  (AA) wie im Reichs­mi­nis­te­ri­um für die be­setz­ten Ost­ge­bie­te (RmfdbO) un­ter Al­fred Ro­sen­berg (1893-1946).  Als aus­ge­wie­se­ner So­wjet­union­ex­per­te war er in den Völ­ker­mord an den eu­ro­päi­schen Ju­den und die deut­sche Be­sat­zungs­po­li­tik Ost­eu­ro­pas in­vol­viert. In der jun­gen Bun­des­re­pu­blik ge­lang Bräu­ti­gam ei­ne zwei­te Kar­rie­re im Aus­wär­ti­gen Dienst, in dem er rasch bis zum Mi­nis­te­ri­al­di­ri­gen­ten und Lei­ter der Ost­ab­tei­lung des neu­en AA auf­stieg. Er gilt we­gen sei­ner Ver­stri­ckung in na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­bre­chen als ei­ne der um­strit­tens­ten Ge­stal­ten des al­ten und neu­en Aus­wär­ti­gen Am­tes.

Ot­to Bräu­ti­gam kam am 14.5.1895 in We­sel als Sohn ei­nes Land­ge­richts­di­rek­tors zur Welt. Nach dem Be­such des Re­al­gym­na­si­ums in Duis­burg, wo­hin die ka­tho­li­sche Fa­mi­lie ge­zo­gen war, nahm Bräu­ti­gam 1913 ein Stu­di­um der Rechts­wis­sen­schaf­ten auf, das ihn in sei­nen ers­ten drei Se­mes­tern nach Gre­no­ble, Ox­ford und Straß­burg führ­te und jäh vom Ers­ten Welt­krieg un­ter­bro­chen wur­de. Bräu­ti­gam trat zu Kriegs­be­ginn 1914 als Fah­nen­jun­ker in das I. West­fä­li­sche Feld­ar­til­le­rie­re­gi­ment Nr. 7 ein und kämpf­te mit ihm an den Brenn­punk­ten der West­front, wie Ver­dun, der Som­me und Ypern. Aus je­nen Kriegs­jah­ren stamm­te die Be­kannt­schaft mit sei­nem Re­gi­ments­ka­me­ra­den und spä­te­ren Reichs­pres­se­chef der NS­DAP, Ot­to Diet­rich (1897–1952). Mit der De­mo­bi­li­sie­rung schied der Bat­te­rie­füh­rer Bräu­ti­gam 1919 im Ran­ge ei­nes Ober­leut­nants aus dem Hee­re aus.

Ins Zi­vil­le­ben zu­rück­ge­kehrt be­en­de­te er sein Stu­di­um in Müns­ter mit dem Staats­ex­amen und ab­sol­vier­te das Re­fe­ren­da­ri­at am Amts­ge­richt Coes­feld. Nach sei­ner er­be­te­nen Be­ur­lau­bung aus dem Jus­tiz­dienst nahm das Aus­wär­ti­ge Amt 1920 die Be­wer­bung des sprach­be­gab­ten und welt­ge­wand­ten Ju­ris­ten für den Aus­wär­ti­gen Dienst an. Wäh­rend der At­ta­chéaus­bil­dung durch­lief Bräu­ti­gam ver­schie­de­ne Ab­tei­lun­gen der Zen­tra­le in Ber­lin und die Au­ßen­han­dels­stel­le des Aus­wär­ti­gen Am­tes in Bre­men. 1922 pro­mo­vier­te er mit der Dis­ser­ta­ti­on  „Der Wahr­heits­be­weis bei Be­lei­di­gun­gen und sein Ver­hält­nis zur Schuld­fra­ge“ an der Uni­ver­si­tät Gie­ßen zum Dr. jur. Die fran­zö­si­sche Ruhr­be­set­zung ver­zö­ger­te zu­nächst 1923 die für At­ta­chés üb­li­che Ver­set­zung ins Aus­land und brach­te ihn in sei­ne ers­te ei­gen­ver­ant­wort­li­che Po­si­ti­on als „Ruh­r­ein­bruchs­re­fe­ren­t“, bis der jun­ge und ta­len­tier­te Di­plo­mat, ent­ge­gen sei­nen Wün­schen in die So­wjet­uni­on ent­sandt wur­de. Durch sei­ne Ar­beit an den deut­schen Kon­su­la­ten in Tif­lis (1923), Ba­ku (1924), Char­kow (1925) und Odes­sa (1927), in der er sich ins­be­son­de­re um die Wah­rung deut­scher Wirt­schafts­in­ter­es­sen in der So­wjet­uni­on, de­ren Agrar­po­li­tik er be­ob­ach­te­te, be­müh­te, pro­fi­lier­te sich Bräu­ti­gam zu ei­nem der kom­men­den Ost­ex­per­ten  und Spe­zia­lis­ten für die so­wje­ti­sche Land­wirt­schaft. Von gro­ßer Be­deu­tung für sei­ne spä­te­re Kar­rie­re soll­te der Auf­ent­halt in Ba­ku sein, wo er den deut­schen Ho­no­rar­kon­sul Eck in des­sen Amt ein­führ­te. Eck, der mit ei­ner Schwes­ter der Mut­ter Al­fred Ro­sen­bergs ver­hei­ra­tet war, wur­de von den So­wjets auf­grund of­fe­ner Ver­hand­lun­gen über Kon­su­lar­be­stim­mun­gen ver­haf­tet. Dem zum Kon­sul in Char­kow er­nann­ten Bräu­ti­gam ge­lang es, durch In­ter­ven­ti­on bei der deut­schen Bot­schaft in Mos­kau Ecks Frei­las­sung zu er­rei­chen. Da­durch lern­te Bräu­ti­gam 1925 Al­fred Ro­sen­berg so­wie Ge­org Leib­brandt (1899-1982), des­sen spä­te­ren Mit­ar­bei­ter im Reichs­mi­nis­te­ri­um für die be­setz­ten Ost­ge­bie­te, ken­nen. Ro­sen­bergs Wert­schät­zung Bräu­ti­gams dürf­te da­her nicht nur auf des­sen Ex­per­ten­qua­li­fi­ka­ti­on, son­dern auch auf die Hil­fe­leis­tung für ei­nen Ver­wand­ten zu­rück­zu­füh­ren sein.

1928 wur­de Bräu­ti­gam an die deut­sche Bot­schaft nach Mos­kau ver­setzt, wo er die Re­fe­ra­te für Po­li­tik und Pres­se über­nahm. Nach­dem die Ver­su­che des Mos­kau­er Bot­schaf­ters Her­bert von Dirk­sen (1882-1955) die deutsch-so­wje­ti­schen Be­zie­hun­gen zu ver­tie­fen letzt­lich früh schei­ter­ten, be­or­der­te ihn das Aus­wär­ti­ge Amt 1930 zu­rück in die Ber­li­ner Zen­tra­le. Dort be­schäf­tig­te sich der zum Lei­ter der Ab­tei­lung „Wirt­schaft – Russ­lan­d“ be­för­der­te Agrar­spe­zia­list vor al­lem mit Schlich­tungs­ver­fah­ren über den Han­del und die Ein­fuhr so­wje­ti­scher Wa­ren.

Mit der Macht­über­nah­me der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten hoff­te Ot­to Bräu­ti­gam 1933 auf de­ren An­ti­bol­sche­wis­mus, den der Ost­ex­per­te aus ei­ge­ner An­schau­ung teil­te. Die be­gin­nen­de Dis­kri­mi­nie­rung und Aus­gren­zung der deut­schen Ju­den galt ihm als ge­recht­fer­tigt. Vom El­tern­haus her na­tio­nal­kon­ser­va­tiv ge­prägt, hat­te er die deut­sche Nie­der­la­ge und die Re­vo­lu­ti­on von 1918 als Schmach emp­fun­den und sym­pa­thi­sier­te da­her - wie vie­le Di­plo­ma­ten - mit den de­mo­kra­tie­feind­li­chen und au­ßen­po­li­ti­schen Zie­len des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Wäh­rend der durch die­se Hal­tung mit­be­stimm­ten „Selbst­gleich­schal­tun­g“ (Con­ze/Frei/Hayes/Zim­mer­mann) des Aus­wär­ti­gen Am­tes setz­te Bräu­ti­gam sei­ne stei­le Kar­rie­re un­ge­bro­chen fort. 1934 nahm er un­ter­schied­li­che Auf­ga­ben beim „Reichs­kom­mis­sar  für die Preis­bil­dun­g“ wahr. Nach ei­ner „In­for­ma­ti­ons­rei­se“ des Aus­wär­ti­gen Am­tes, die ihn 1935 wie­der nach Mos­kau und Char­kow führ­te, kam Bräu­ti­gam auf­grund er­folg­rei­cher Ar­beit 1936 an die deut­sche Bot­schaft in Pa­ris. Noch vor An­tritt sei­nes neu­en Aus­lands­pos­tens hei­ra­te­te er am 9.3.1936 die Ber­li­ne­rin Ger­trud Pe­ters; aus der Ehe gin­gen drei Söh­ne und ei­ne Toch­ter her­vor. Im Auf­trag des Pa­ri­ser Bot­schaf­ters Jo­han­nes von Welcz­eck (1878-1972) be­treu­te Bräu­ti­gam den Kon­takt der Bot­schaft zur Lan­des­grup­pe Frank­reich der NS­DAP, der er im De­zem­ber 1936 bei­trat. In Pa­ris mach­te er 1937 auch die Be­kannt­schaft des Gau­lei­ters von West­fa­len-Nord, Al­fred Mey­er (1891-1945), der Ro­sen­bergs Stell­ver­tre­ter im Reichs­mi­nis­te­ri­um für die be­setz­ten Ost­ge­bie­te wer­den soll­te.

In die Zen­tra­le nach Ber­lin zu­rück­ver­setzt be­klei­de­te Bräu­ti­gam 1939 das Grund­satz­re­fe­rat der han­dels­po­li­ti­schen Ab­tei­lung des Aus­wär­ti­gen Am­tes, das zu Be­ginn des Zwei­ten Welt­krie­ges ob­so­let wur­de. Mit dem Über­fall auf Po­len fun­gier­te der Di­plo­mat des­halb als Ver­bin­dungs­mann des Aus­wär­ti­gen Am­tes zum Chef des Wehr­wirt­schafts- und Rüs­tungs­am­tes des Ober­kom­man­dos der Wehr­macht (OKW), Ge­ne­ral Ge­org Tho­mas (1890-1946). Ab No­vem­ber des­sel­ben Jah­res war Bräu­ti­gam zu­dem auf An­for­de­rung des NS-Wirt­schafts­funk­tio­närs Max Wink­ler (1875-1961) zur un­ter chao­ti­schen Ver­hält­nis­sen lei­den­den Haupt­treu­hand­stel­le Ost (HTO), die der Aus­plün­de­rung des ge­schla­ge­nen Po­lens dien­te, ab­ge­ord­net. Im Ju­li 1940 wur­de er vor­über­ge­hend zum Ge­ne­ral­kon­sul im kau­ka­si­schen Ba­tum er­nannt, von wo ihn das Aus­wär­ti­ge Amt als Ur­laub ge­tarnt am 21.3.1941 we­gen der di­rek­ten Kriegs­vor­be­rei­tun­gen ab­zog.

In der Zen­tra­le wur­de er Mit­glied des „Russ­land­ko­mi­tee“ ge­nann­ten Ex­per­ten­gre­mi­ums für die So­wjet­uni­on, be­vor er im Mai gänz­lich zur „Dienst­stel­le Ro­sen­ber­g“, dem ideo­lo­gi­schen Par­tei­amt Al­fred Ro­sen­bergs, ab­kom­man­diert wur­de. Ro­sen­berg hat­te schon zu­vor am 11.4.1941 in sei­nem Land­haus im ös­ter­rei­chi­schen Mond­see ei­ne Auf­stel­lung sei­nes zu­künf­ti­gen Reichs­mi­nis­te­ri­ums für die be­setz­ten Ost­ge­bie­te skiz­ziert, in der er Bräu­ti­gam mit der Lei­tung der po­li­ti­schen Ab­tei­lung des Mi­nis­te­ri­ums vor­sah. Er­neut in der Funk­ti­on ei­nes Ver­bin­dungs­man­nes des Aus­wär­ti­gen Am­tes war er im Auf­trag Ro­sen­bergs, zu­sam­men mit Ge­org Leib­brandt und dem Au­ßen­po­li­ti­schen Amt der NS­DAP (APA), an den Pla­nun­gen des neu zu schaf­fen­den Ost­mi­nis­te­ri­ums be­tei­ligt: Zum Zwe­cke der po­li­ti­schen wie phy­si­schen Ver­nich­tung des Kom­mu­nis­mus  und der dar­auf fol­gen­den „Neu­ge­stal­tung des eu­ro­päi­schen Os­ten­s“ ar­bei­te­te er an ei­nem Ver­wal­tungs- und Glie­de­rungs­plan der zu be­set­zen­den so­wje­ti­schen Ge­bie­te mit, der dar­auf ab­ziel­te, die zen­tra­li­sier­te So­wjet­uni­on nach eth­ni­schen Gren­zen auf­zu­tei­len und die na­tio­na­len Min­der­hei­ten ge­gen Mos­kau zu mo­bi­li­sie­ren.

Die­se De­kom­po­si­ti­ons­po­li­tik, die kei­nes­falls men­schen­freund­li­cher war, son­dern sich in die Ver­nich­tungs­per­spek­ti­ve auf die So­wjet­uni­on ein­bet­te­te, wur­de durch die so­ge­nann­te „Grü­nen Map­pe“ Her­mann Gö­rings (1893-1946) vom Ju­ni 1941, die ei­ne rück­sichts­lo­se Aus­beu­tung der Be­sat­zungs­ge­bie­te vor­sah, kon­ter­ka­riert. Bräu­ti­gam schrieb, nach­dem er die­se Di­rek­ti­ven­samm­lung ge­se­hen hat­te, die „All­ge­mei­ne[n] Richt­li­ni­en für die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Ver­wal­tung der be­setz­ten Ost­ge­bie­te“, in de­nen er sich für ei­ne Scho­nung und Ge­win­nung der Be­völ­ke­rung aus­sprach, gip­felnd in den Wor­ten: „Der Krieg ge­gen die So­wjet­uni­on ist ein po­li­ti­scher Feld­zug, kein wirt­schaft­li­cher Raub­zug.“ Ob­gleich sei­ne Denk­schrift an der un­ent­schie­de­nen Hal­tung Ro­sen­bergs und dem Ein­grei­fen Hit­lers in den Rich­tungs­streit zu­guns­ten Gö­rings schei­ter­te, ver­such­te er wei­ter­hin ver­geb­lich die in den „Richt­li­ni­en“ aus­for­mu­lier­ten Über­le­gun­gen zu ver­fol­gen.

 

Als am 22.6.1941 das „Un­ter­neh­men Bar­ba­rossa“, der Ver­nich­tungs­krieg ge­gen die So­wjet­uni­on be­gann, drück­te er in sei­nem Kriegs­ta­ge­buch, in dem er vom 11.6.1941 bis zum 30.1.1943 no­ti­zen­haft Er­eig­nis­se, Be­ge­ben­hei­ten und Tri­via­li­tä­ten fest­hielt, sei­ne Freu­de über den Kampf der bei­den gro­ßen to­ta­li­tä­ren Ideo­lo­gi­en aus: Nun war sie end­lich ge­kom­men, die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Bol­sche­wis­mus. Sie muss­te kom­men, wenn ei­ne end­gül­ti­ge Be­frie­dung und Neu­ord­nung Eu­ro­pas her­bei­ge­führt wer­den soll­te. Mit Be­ginn des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Welt­an­schau­ungs­krie­ges im Os­ten war Bräu­ti­gam als Ver­bin­dungs­of­fi­zier Ro­sen­bergs im Ran­ge ei­nes Haupt­man­nes beim Be­fehls­ha­ber der Mi­li­tär­ver­wal­tung im Haupt­quar­tier des Ober­kom­man­dos des Hee­res (OKH), zu­nächst in Wüns­dorf bei Zos­sen, dann im ost­preu­ßi­schen Mau­er­wald, sta­tio­niert.

Im nicht weit vom Ober­kom­man­do ent­fernt ge­le­ge­nen Füh­rer­haupt­quar­tier „Wolfs­schan­ze“ bei Ras­ten­burg nahm Bräu­ti­gam, der in sei­ner Po­si­ti­on über die sys­te­ma­ti­sche Er­mor­dung der Ju­den un­ter­rich­tet und in die­se ein­ge­bun­den war, an Be­spre­chun­gen zur deut­schen Be­sat­zungs­po­li­tik Ost­eu­ro­pas teil. Nach der Be­kannt­ga­be der Er­nen­nung Ro­sen­bergs zum Reichs­mi­nis­ter am 12.11.1941 wur­de Ot­to Bräu­ti­gam in das nun of­fi­zi­ell ge­grün­de­te Reichs­mi­nis­te­ri­um für die be­setz­ten Ost­ge­bie­te in Ber­lin be­ru­fen, wo er die Ab­tei­lung „All­ge­mei­ne Po­li­ti­k“ lei­te­te. Da­mit war er als Stell­ver­tre­ter Leib­brandts, der die „Haupt­ab­tei­lung I (Po­li­tik)“ des Mi­nis­te­ri­ums führ­te, der viert­mäch­tigs­te Mann des neu­en Mi­nis­te­ri­ums. Da­ne­ben über­nahm er die Lei­tung der „Zen­tra­le für die po­li­ti­sche Un­ter­stüt­zung der Kriegs­füh­rung im Os­ten“, mit der sich sei­ne Zu­sam­men­ar­beit mit dem Wehr­machts­pro­pa­gan­da­amt, dem Reichs­pro­pa­gan­da­mi­nis­te­ri­um und dem Reichs­si­cher­heits­haupt­amt ver­band.

Im Früh­jahr 1942 pu­bli­zier­te Bräu­ti­gam das auf den Stu­di­en sei­ner Jah­re in Russ­land ba­sie­ren­de Buch „Die Land­wirt­schaft in der So­wjet­uni­on“ in der Schrif­ten­rei­he sei­nes Vor­ge­setz­ten Leib­brandt, in dem er die so­wje­ti­sche Agrar­po­li­tik ei­ner Ana­ly­se un­ter­zieht. Die so­wje­ti­sche Kol­lek­ti­vie­rung der Land­wirt­schaft be­trach­tet er dar­in re­du­ziert als Zwangs­in­stru­ment der Herr­schafts­si­che­rung der Bol­sche­wi­ki. Sie galt es nach sei­nen Vor­stel­lun­gen durch die deut­sche Be­sat­zung zu re­vi­die­ren, was an­satz­wei­se in der „Neu­en Agrar­ord­nun­g“ des Ost­mi­nis­te­ri­ums für die be­setz­ten Ge­bie­te im Fe­bru­ar 1942 fest­ge­hal­ten wur­de.

Den Hö­he­punkt sei­ner ers­ten Kar­rie­re er­reich­te Bräu­ti­gam am 21.5.1942 mit der Be­för­de­rung zum Mi­nis­te­ri­al­di­ri­gen­ten und wur­de von Ro­sen­berg zum Be­voll­mäch­tig­ten des Fra­gen­kom­ple­xes Kau­ka­sus er­nannt, ge­gen den sich ne­ben Sta­lin­grad die gro­ße Som­mer­of­fen­si­ve der Wehr­macht in der So­wjet­uni­on rich­te­te. Ab No­vem­ber 1942, als die Of­fen­si­ve den Kul­mi­na­ti­ons­punkt längst über­schrit­ten hat­te, war er als Ver­bin­dungs­of­fi­zier sei­nes Mi­nis­te­ri­ums bei der im Kau­ka­sus ste­hen­den Hee­res­grup­pe A im Ein­satz und er­leb­te das end­gül­ti­ge Schei­tern der deut­schen Er­obe­rungs­plä­ne. Nach der ka­ta­stro­pha­len Nie­der­la­ge von Sta­lin­grad floh der Haupt­mann in die Ukrai­ne, um sich An­fang 1943 wie­der dem Ost­mi­nis­te­ri­um an­zu­schlie­ßen. Nach der Ent­las­sung sei­nes al­ten Be­kann­ten Leib­brandt und des­sen Er­set­zung durch den SS-Ober­grup­pen­füh­rer  Gott­lob Ber­ger (1896-1975) führ­te er die „Füh­rungs­grup­pe I. All­ge­mei­nes“ im Reichs­mi­nis­te­ri­um für die be­setz­ten Ost­ge­bie­te wie auch die „Zen­tral­stel­le für die An­ge­hö­ri­gen der Völ­ker des Os­ten­s“. 1944 be­reis­te Bräu­ti­gam mit sei­nem Mi­nis­ter Ro­sen­berg das Reichs­kom­mis­sa­ri­at Ost­land und das Reichs­pro­tek­to­rat Böh­men und Mäh­ren, bis er ab Au­gust des­sel­ben Jah­res zu den Volks­ge­richts­hof­pro­zes­sen ge­gen die Ver­schwö­rer des 20. Ju­li de­le­giert wur­de. Die Er­eig­nis­se vor­weg­neh­mend ver­ließ Bräu­ti­gam am 14.1.1945 das sei­ner ge­sam­ten Ter­ri­to­ri­al­macht ver­lus­tig ge­wor­de­ne Reichs­mi­nis­te­ri­um für die be­setz­ten Ost­ge­bie­te und wech­sel­te zu­rück in das Aus­wär­ti­ge Amt, mit des­sen wirt­schafts­po­li­ti­scher Ab­tei­lung er En­de Fe­bru­ar 1945 vom be­droh­ten Ber­lin ins thü­rin­gi­sche Blan­ken­heim um­zog.

Otto Bräutigam (links) und Minister Alfred Rosenberg (rechts) im Reichskommissariat Ostland (Litauen; in der Mitte mit Brille: Gauleiter Dr. Alfred Meyer), Ende Mai 1942.

 

Mit Kriegs­en­de kam Ot­to Bräu­ti­gam in den für Mi­nis­te­ri­al­be­am­te vor­ge­se­he­nen „Au­to­ma­tic Ar­res­t“ der Ame­ri­ka­ner im La­ger Se­cken­heim. Bei den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen trat er als Zeu­ge der An­kla­ge ge­gen sei­nen ehe­ma­li­gen Dienst­herrn Ro­sen­berg, den Staats­se­kre­tär im Aus­wär­ti­gen Amt Ernst von Weiz­sä­cker (1882-1951) und das Ober­kom­man­do der Wehr­macht (OKW) auf. 1950 lei­te­te die Staats­an­walt­schaft Nürn­berg-Fürth ein Er­mitt­lungs­ver­fah­ren we­gen des Ver­dachts des mehr­fa­chen Mor­des ge­gen ihn ein. Das Land­ge­richt Nürn­berg-Fürth ur­teil­te, „dass er die Ju­den­ver­nich­tun­gen nicht bil­lig­te, da­ge­gen tat, was in sei­ner Macht stand […]“, wes­halb das Ver­fah­ren noch im sel­ben Jahr ein­ge­stellt wur­de. Nach­dem er von 1947-1951 wie­der als So­wjet­union­ex­per­te für US-Dienst­stel­len ge­ar­bei­te­te hat­te, stell­te ihn das Aus­wär­ti­ge Amt der Bun­des­re­pu­blik 1953 wie­der ein. Zum Mi­nis­te­ri­al­di­ri­gen­ten be­för­dert lei­te­te er be­reits ein Jahr spä­ter die Ost­ab­tei­lung des neu­en Aus­wär­ti­gen Am­tes.

Sei­ne zwei­te Kar­rie­re ge­riet 1956 durch die Quel­len­samm­lung des His­to­ri­kers Jo­sef Wulf (1912-1974), „Das Drit­te Reich und die Ju­den“, in der Bräu­ti­gam mit ei­nem die Exe­ku­tio­nen von Ju­den be­tref­fen­den Brief ver­tre­ten war, ins In­ter­es­se der Öf­fent­lich­keit. Auf par­la­men­ta­ri­schen Druck be­ur­laub­te Bun­des­au­ßen­mi­nis­ter Hein­rich von Bren­ta­no (1904-1964) Bräu­ti­gam und ord­ne­te ei­ne Un­ter­su­chung an, die 1957 mit der Re­ha­bi­li­tie­rung des ehe­ma­li­gen NS-Mi­nis­te­ri­al­be­am­ten en­de­te. Von der Wie­der­auf­nah­me sei­nes Diens­tes 1958 bis zu sei­ner Pen­sio­nie­rung im Jah­re 1960 ver­trat Bräu­ti­gam die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land als Ge­ne­ral­kon­sul in Hong­kong. Der 1959 mit dem Gro­ßen Bun­des­ver­dienst­kreuz aus­ge­zeich­ne­te Di­plo­mat starb am 30.4.1992 in Coes­feld.

Werke

Die Land­wirt­schaft in der So­wjet­uni­on, Ber­lin 1942.
Ei­gen­tums­fra­gen in den be­setz­ten Ost­ge­bie­ten, in: Leib­brandt, Ge­org (Hg.), Pro­ble­me des Ost­rau­mes, Ber­lin 1942.
Über­blick über die be­setz­ten Ost­ge­bie­te wäh­rend des II. Welt­krie­ges, Tü­bin­gen 1954.
Chi­nas Stel­lung in der Welt­po­li­tik un­ter be­son­de­rer Be­rück­sich­ti­gung der wirt­schaft­li­chen  Ge­ge­ben­hei­ten. Vor­trag vor dem Düs­sel­dor­fer In­dus­trie­club, Düs­sel­dorf 1962.
So hat es sich zu­ge­tra­gen: Ein Le­ben als Sol­dat u. Di­plo­mat, Würz­burg 1968.

Literatur

Con­ze, Eck­art/Frei, Nor­bert/Hayes, Pe­ter/Zim­mer­mann, Mos­he, Da­s Am­t und die Ver­gan­gen­heit. Deut­sche Di­plo­ma­ten im Drit­ten Reich und in der Bun­des­re­pu­blik, Mün­chen 2010.
Fleisch­hau­er, In­ge­borg, Das Drit­te Reich und die Deut­schen in der ­So­wjet­uni­on (Schrif­ten­rei­he der Vier­tel­jahrs­hef­te für Zeit­ge­schich­te 46), Stutt­gart 1983.
Ger­lach, Chris­ti­an, Kal­ku­lier­te Mor­de. Die deut­sche Wirt­schafts- und Ver­nich­tungs­po­li­tik in Wei­ß­russ­land 1941 bis 1944. Ham­burg 1999.
Gib­bons, Ro­bert, All­ge­mei­ne Richt­li­ni­en für die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Ver­wal­tung der be­setz­ten Ost­ge­bie­te, in: Vier­tel­jahrs­hef­te für Zeit­ge­schich­te 25 (1977), S. 252-261.
Heil­mann, H. D.: Aus dem Kriegs­ta­ge­buch des Di­plo­ma­ten Ot­to Bräu­ti­gam, in: Aly, Götz/Ch­roust, Pe­ter/Heil­mann, H. D./Lang­bein, Her­mann (Hg.), Bie­der­mann und Schreib­tisch­tä­ter. Ma­te­ria­li­en zur deut­schen Tä­ter-Bio­gra­phie (In­sti­tut für So­zi­al­for­schung in Ham­burg: Bei­trä­ge zur na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ge­sund­heits- und So­zi­al­po­li­tik 4), Ber­lin 1987, S. 123-187.
Pi­per, Ernst, Al­fred Ro­sen­berg. Hit­lers Chef­ideo­lo­ge, Mün­chen 2005.
Schnep­pen, Heinz, Ge­ne­ral­kon­sul a.D. Dr. Ot­to Bräu­ti­gam: Wi­der­stand und Ver­stri­ckung. Ei­ne quel­len­kri­ti­sche Un­ter­su­chung, in: Zeit­schrift für Ge­schichts­wis­sen­schaft 60 (2012), S. 301–330.

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Gib­bons, Ro­bert: All­ge­mei­ne Richt­li­ni­en für die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Ver­wal­tung der be­setz­ten Ost­ge­bie­te, in: Vier­tel­jahrs­hef­te für Zeit­ge­schich­te 25 (1977), S. 252-261. [On­line]
Bräu­ti­gams Schrei­ben an Hin­rich Loh­se, in: Haus der Wann­see­kon­fe­renz. [On­line]
Bräu­ti­gam, Ot­to (1895-1992), in: Ak­ten der Reichs­kanz­lei. Wei­ma­rer Re­pu­bli­k on­line. [On­line]

Bräu­ti­gam in der öf­fent­li­chen Dis­kus­si­on 1956/57:

Es gab Gän­se­bra­ten, in: Der Spie­gel Nr. 12 (1956), S.21. [On­line]
Per­so­na­li­en, Ot­to Bräu­ti­gam, in: Der Spie­gel Nr. 41 (1956), S. 48. [On­line]
Der Spie­gel be­rich­te­te, in: Der Spie­gel Nr. 47 (1957), S. 66. [On­line]

Antwort von Otto Bräutigam, Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, an Hinrich Lohse, Reichskommissar für das Ostland, 18.12.1941. (Institute for Jewish Research, New York, Foto: OCC E 3, 28)

 
Zitationshinweis

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Schulz, René, Otto Bräutigam, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/otto-braeutigam-/DE-2086/lido/57c587c7ac8cc6.51039698 (abgerufen am 19.03.2024)