Die Bayer AG nach 1945
Zu den Kapiteln
1. Einleitung
Das unter dem Namen Bayer (fortan Bayer oder Bayer AG) bekannte Unternehmen wurde im Jahr 1863 von Friedrich Bayer (1825-1880) und Johann Friedrich Weskott (1821-1876) in Elberfeld (heute Stadt Wuppertal), gegründet. Es firmierte zunächst unter dem Namen „Friedr. Bayer et comp.“[1] Zweck der gegründeten Gesellschaft war die Produktion von Anilinfarbstoffen, die zur Färbung von Textilien eingesetzt wurden. Ausgehend von der Farbstoffproduktion expandierte die junge Firma nach anfänglichen Krisen rasch, verlegte ihren Sitz 1912 nach Leverkusen und diversifizierte ihre Produktionspalette bis 1914 stetig. Neben Farbstoffen kamen Pharmazeutika, Pflanzenschutzmittel sowie die Herstellung von Grundchemikalien hinzu. Ein wichtiger Baustein des Aufstiegs war der Aufbau einer unternehmensinternen Forschung, die für die Entwicklung der gesamten chemischen Industrie charakteristisch war und bis heute ihre Gestalt prägt. Der Beginn des Ersten Weltkriegs wurde zu einem harten Einschnitt. Rohstoff- und Absatzmärkte brachen faktisch über Nacht weg und versetzten dem stark exportorientierten Unternehmen einen schweren Schlag. Den Herausforderungen der Nachkriegszeit, wie ein weltweit um sich greifender Protektionismus und Überkapazitäten, begegnete die Bayer AG im Verbund mit den anderen deutschen Teerfarbenherstellern mit dem Zusammenschluss zur I.G. [Interessengemeinschaft] Farbenindustrie AG (fortan I.G. oder I.G. Farben) 1925. Damit entstand der größte Chemiekonzern der Welt, der neben Bayer auch die ehemaligen Konkurrenten BASF und Hoechst einschloss. Bis zur Zerschlagung der I.G. Farben 1945, die auf das alliierte Kriegsziel der Dekartellisierung zurückging, blieb Bayer ein integraler Bestandteil des Chemieriesen. Was blieb, waren die in den knapp 20 Jahren Zugehörigkeit geleisteten Erfolge in Forschung und Entwicklung, an die die neugegründete Organisation anknüpfen konnte. Die für den Wiederaufbau so bedeutungsvolle Zugehörigkeit zur I.G. Farben wird daher im ersten Teil dieses Beitrags zur Neugründung des Unternehmens knapp skizziert. Im zweiten Teil steht der Zeitraum bis zum Beginn der 1970er Jahre im Mittelpunkt, der durch ein starkes Unternehmenswachstum und den sukzessiven Aufbau einer Weltmarktposition gekennzeichnet ist. Im dritten Teil widmet sich die Darstellung dem Zeitraum von den 1970er bis in die 2000er Jahre, die im Zeichen von Konsolidierung und Internationalisierung standen und in denen die Weichen zur Spezialisierung auf den Lifescience-Bereich gestellt wurden. Den Abschluss bildet ein knapper Ausblick auf die jüngste Akquisition von Bayer, das US-amerikanische Unternehmen Monsanto.
2. Die Auflösung der I.G. und die Neugründung des Unternehmens
Die Dekartellisierung der deutschen Industrie gehörte zu den wichtigen Kriegszielen der Alliierten, in dem sich ökonomische und politische Ziele der Friedenssicherung verbanden. Im Bereich der chemischen Industrie konzentrierte sich dies auf den Chemieriesen I.G. Farbenindustrie AG. Sie hatte die Branche im Deutschen Reich dominiert und in der Kriegswirtschaft eine zentrale Rolle eingenommen. Wie kaum ein anderer stand der Name I.G. Farben durch den Bau des Werkes Auschwitz-Monowitz für die Beteiligung eines deutschen Unternehmens an den Verbrechen während der NS-Herrschaft.[2] Gleichzeitig gelangen unter seiner Regie wegweisende technische Leistungen wie die Benzin- und Kautschuksynthese sowie das Auffinden bis heute wichtiger Kunststoffe, auf denen die drei großen Nachfolgegesellschaften Bayer, BASF und Hoechst aufbauen konnten.
Aber nicht nur von den gewaltigen immateriellen Hinterlassenschaften im Forschungsbereich, sondern auch von seinen einstigen Organisationsstrukturen profitierten die westdeutschen I.G.-Nachfolger. Für das 1951 unter dem Namen „Farbenfabriken Bayer AG“ neugegründete Unternehmen gehörte dazu insbesondere die Binnenorganisation der I.G. So organisierte die I.G.-Konzernleitung 1925 aufgrund der starken geographischen Zersplitterung vier Betriebsgemeinschaften. Diese organisatorische Maßnahme resultierte aus der Vielzahl der in der I.G. fusionierten, einst eigenständigen Unternehmen. Die Betriebsgemeinschaften fassten die Unternehmensstandorte nach regionalen Clustern unter einer Oberleitung zusammen. Eine davon war die Betriebsgemeinschaft Niederrhein, die ab 1943 von Ulrich Haberland (1900-1961) geleitet wurde. Zu ihr gehörten unter anderem die Werke in Leverkusen, Elberfeld, Dormagen und Uerdingen (Stadt Krefeld). Sie wurde nach langen Verhandlungen letztlich zur Keimzelle der späteren Bayer AG. Darüber hinaus konnte sich Bayer auch das unter dem Namen AGFA zusammengefasste Geschäft im Bereich Fotochemikalien eingliedern. Die entsprechende Fabrik auf dem Gebiet Westdeutschlands befand sich am Standort Leverkusen. Der Schwerpunkt der ehemaligen AGFA-Produktion im Raum Wolfen lag hingegen auf dem Staatsgebiet der späteren DDR und floss daher nicht in die Verteilungsmasse ein. Zusammen mit den Werken erbte die Bayer AG auch wichtige Forschungseinrichtungen wie das Kautschukzentrallaboratorium, das bei seiner Errichtung in den späten 1930er Jahren zu den modernsten der Welt gehört hatte und Bayer nach Aufhebung der alliierten Beschränkungen 1955 ein wichtiges Standbein im Bereich des synthetischen Gummis sicherte.[3] Ebenfalls am Standort in Leverkusen fanden sich große Teile der Forschungs- und Vertriebseinrichtungen für Pharmazeutika und Pflanzenschutzmittel konzentriert. Hinzu kam, dass im Zuge der internen Rationalisierung der I.G. Farben auch das gesamte pharmazeutische und Pflanzenschutzsortiment unter dem Namen „Bayer“ vertrieben wurde.
Entscheidend für die Neukonstituierung der Bayer AG war die Rolle der britischen Besatzungsmacht, in deren Zone die Standorte der Betriebsgemeinschaft Niederrhein lagen. Die Briten sorgten im Gegensatz zu Amerikanern, Franzosen oder Sowjets für eine hohe Kontinuität des Personals. Nahezu das gesamte Management sowie ein Großteil des Forschungspersonals der späteren Bayer AG hatte bereits zu I.G.-Zeiten in der Niederrheingruppe oder anderswo im Konzern an entsprechender Stelle gearbeitet. Besonders markant waren hierbei zwei Personalien. Die erste betraf Ulrich Haberland, der noch zu I.G.-Zeiten zum Leiter der Betriebsgemeinschaft Niederrhein ernannt worden war. Er konnte sich über den Bruch von 1945 als verantwortlicher Manager halten und stieg ab 1951 zum ersten Vorstandsvorsitzenden der Bayer AG auf. Durch seine guten Beziehungen zu den britischen Besatzungsbehörden gelang es ihm, dem Unternehmen Produktionskapazitäten zu erhalten und die Werke der Niederrheingruppe zu einem Auffangbecken für zahlreiche ehemalige I.G.-Forscher zu machen, die aus ihren Stellen entlassen worden oder aus der sowjetischen Besatzungszone geflüchtet waren. Die zweite Personalie betraf Otto Bayer (1902-1982), der 1934 die Leitung des Wissenschaftlichen Hauptlaboratoriums in Leverkusen übertragen bekommen hatte und seit der Neugründung 1951 die Unternehmensforschung der Bayer AG verantwortete. Unter seiner Leitung war es der Leverkusener Forschung 1937 gelungen, den Kunststoff Polyurethan zu synthetisieren. Polyurethan wurde nach 1945 zu einem der Erfolgsprodukte des Unternehmens und stand fortan für die großen wissenschaftlichen Leistungen der Bayer-Forschung und ihres Leiters Otto Bayer.
3. Wachstum im Zeichen des Booms (1951-1970)
3.1 Rechtsform und Unternehmensorganisation
Die Neugründung der Bayer AG 1951 beendete eine Phase akuter Unsicherheit über die Zukunft der ehemaligen I.G.-Werke am Niederrhein. Mit der konstituierenden Aufsichtsratssitzung am 19.12.1951 wurde die Bayer AG wieder ein eigenständiges Unternehmen in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft.[4] Hatten bis zu diesem Zeitpunkt die Direktoren der einzelnen Abteilungen unter Generaldirektor Ulrich Haberland das Unternehmen geführt, berief der Aufsichtsrat nun wieder einen verantwortlichen Vorstand. Diesem gehörten unter dem Vorsitz Haberlands zunächst 14 weitere Mitglieder an, die sich bis 1961 jedoch auf elf reduzierten. In diesem Jahr kam es zudem zum vorzeitigen Wechsel im Amt des Vorstandsvorsitzenden, nachdem Ulrich Haberland unerwartet verstorben war. Kurt Hansen (1910-2002) folgte ihm in dieser Position bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 1972 nach.
Geführt wurde das Unternehmen in diesem Zeitraum mittels einer funktionalen Organisation. Diese war stark durch die Zeit der Auflösung der I.G. Farben geprägt. Auch aus rein pragmatischen Gründen führte man die funktionale Unternehmensstruktur fort, die entlang der Unternehmensfunktionen Produktion, Vertrieb, Beschaffung, Verwaltung oder Forschung organisiert war. Die darunter befindlichen Abteilungen wurden von einem verantwortlichen Direktor geführt, der über weitgehende Handlungsfreiheit in seinem Zuständigkeitsbereich verfügte. Diese wurde durch die Zugehörigkeit der meisten Direktoren zum Vorstand zusätzlich gestärkt. Aufgrund der vier Unternehmensstandorte existierte jedoch eine Modifikation der klassischen funktionalen Organisation. So verfügten die Werksleiter, die meist in Personalunion auch eine der Abteilungen leiteten, über weitgehende Kompetenzen an ihrem Werksstandort. Diese Konstellation stärkte letztlich die Autorität des Vorstandsvorsitzenden, der in Personalunion auch Werksleiter des größten und bedeutendsten Bayerwerks in Leverkusen war.
3.2 Der lange Abschied von der I.G. und die Rückkehr auf den Weltmarkt
Die Entflechtung der I.G. Farbenindustrie zog sich entgegen den anfänglichen Erwartungen fast zwei Jahrzehnte hin. Erst Ende 1970 fand sie in der weitgehenden Konzentration der in Westdeutschland liegenden ehemaligen I.G.-Bestandteile in den drei großen Nachfolgegesellschaften BASF, Bayer und Hoechst ihren Abschluss. In mehreren Vereinbarungen grenzten diese Großen Drei der westdeutschen Chemieindustrie 1969/1970 ihre Beteiligungsportefeuilles final ab. Im Zentrum dieser Vereinbarungen standen die ebenfalls einst zur I.G. gehörenden Firmen Casella und Chemische Werke Hüls. Bei letzterer sicherte sich Bayer die Anteilsmehrheit und damit die Kontrolle des Unternehmens. Erst mit dieser Flurbereinigung setzte ab den 1970er Jahren eine stärkere Auseinanderentwicklung der Großen Drei ein, die sich in einer unterschiedlichen Produktausrichtung niederschlug. Zuvor waren trotz der Auseinandersetzungen um Patentrechte und um die Abgrenzung von Produktportefeuilles und Absatzmärkten, die oft aus der gemeinsamen I.G.-Vergangenheit herrührten, ein enger Austausch sowie regelmäßige Absprachen zur Konkurrenzvermeidung charakteristisch gewesen. Personelle Kontinuitäten in den Führungsetagen der Großen Drei spielten dabei eine zentrale Rolle. Diese Kooperationsformen gingen in ihrer Intensität nach 1970 zwar zurück. Dennoch erloschen sie auch in den folgenden Jahrzehnten genauso wenig wie die partielle Zusammenarbeit beim Zukauf von ausländischen Beteiligungen.[5]
Auch für die Rückkehr auf den Weltmarkt erwiesen sich technische Errungenschaften, Erfahrungen und alte Kontakte als äußerst nützlich. Gerade zu Beginn konnte Bayer an das traditionell starke Farbenexportgeschäft anknüpfen und dabei auf frühere Kontakte und Kooperationen zurückgreifen. Vor allem der Einstieg in den US-amerikanischen Markt gehörte dabei langfristig zu den wichtigsten Weichenstellungen. 1954 gründete die Bayer AG zusammen mit Monsanto – damals noch ein breit aufgestelltes Chemieunternehmen – das Joint-Venture Mobay, mit dem Bayer vor allem sein Polyurethankunststoffsortiment auf den US-amerikanischen Markt brachte. Die noch jungen Produktgruppen Kunststoffe, Synthesefasern und Pflanzenschutzmittel wurden im Auslandsgeschäft generell ein entscheidendes Zugpferd des Erfolgs. Sie bauten weitgehend auf Innovationen der I.G.-Zeit auf und eroberten nach 1945 einen großen Markt. Zu ihnen gehörten neben den Polyurethanen die Polyacrylnitrilfasern oder das Pflanzenschutzmittel Parathion. Insgesamt wurde das Auslandsgeschäft so zum zentralen Wachstumsmotor und Erfolgsgaranten der Unternehmensentwicklung. Laut Geschäftsbericht 1961 belief sich der Anteil des Auslandsgeschäfts am Gesamtumsatz auf 46 Prozent. Am Ende der 1960er Jahre hatte der Anteil des Auslandsumsatzes den des Inlands schließlich überholt. Parallel dazu stieg auch die Bedeutung der Direktinvestitionen im Ausland, die gegenüber den in den 1950er und 1960er Jahren dominierenden Investitionen der Bayer AG in der Bundesrepublik einen stetig größeren Anteil erreichten. Schwerpunkte waren zu dieser Zeit insbesondere die USA und Westeuropa.
Aufbauend auf den Errungenschaften der I.G.-Zeit entwickelte sich die Bayer AG in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Neugründung wieder zu einem diversifizierten Chemieunternehmen. Ende der 1960er Jahre blickte das Unternehmen auf eine beeindruckende Erfolgsgeschichte zurück. Das Produktportfolio reichte zu dieser Zeit von Farbstoffen über Kunststoffe und Lacke, Synthesefasern, Pharmazeutika, Pflanzenschutzmittel, Fotochemikalien, chemische Zwischenprodukte bis zu Grundchemikalien. Der Umsatz hatte sich 1970 im Vergleich zur Neugründungszeit mehr als versechsfacht. Auch die Rückkehr auf den Weltmarkt hatte die Bayer AG dank einer hohen Exportquote und des Aufbaus zahlreicher Auslandsbeteiligungen Ende der 1960er Jahre geschafft.[6]
3.3 Technologische Entwicklung
Die Bayer AG profitierte sowohl personell als auch institutionell von etlichen technischen Errungenschaften der I.G. Farben. Gleichzeitig hatte sie im Zuge der Autarkiepolitik des NS-Regimes und der weitgehenden Abkopplung von der internationalen wissenschaftlichen Entwicklung, insbesondere in den USA, einen erheblichen technologischen Rückstand angehäuft. Hinzu kam der Verlust des gesamten Patentportfolios, das als intellektuelle Reparationen von den Alliierten zur weltweiten Nutzung freigegeben wurde. Die starke Patentposition als seit jeher wichtiger Erfolgsfaktor musste nun wieder neu aufgebaut werden. Dies betraf besonders das einstige Kerngebiet der Farbstoffforschung, auf dem die Arbeiten seit Mitte 1942 komplett brach gelegen hatten.[7] Nach der Neugründung baute die Bayer AG diesen Geschäfts- und Forschungsbereich jedoch zügig wieder auf und schloss hier an alte Erfolge und Stärken an. Deutlich langsamer verlief hingegen der Aufholprozess in der einst erfolgreichen Pharmaforschung. Unter anderem hatte das Management die revolutionäre Entdeckung des Penicillins lange unterschätzt und zudem im ersten Nachkriegsjahrzehnt an der Strategie einer breiten Produktpalette festgehalten. Die notwendigen Investitionssteigerungen und eine stärkere Konzentration auf bestimmte Forschungsfelder erfolgten so erst in den 1960er Jahren und ermöglichten Bayer erst zum Ende des Jahrzehnts wieder den Anschluss an die Weltspitze.
Technologisch am bedeutendsten war jedoch der Einstieg in die Petrochemie, den das Unternehmen in den 1950er und 1960er Jahren vollzog. Erdöl und Erdgas wurden im Zuge dieser von den USA ausgehenden Revolution zum entscheidenden Rohstoff der Chemieindustrie. Die Rohstoffbasis der Bayer AG beruhte Ende der 1940er Jahre analog zur deutschen Konkurrenz auf der Kohle. Das Unternehmen war als Farbstoffhersteller auf Basis von Steinkohleteer entstanden und setzte seither auf den gesicherten heimischen Rohstoff. Dieser verteuerte sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten jedoch massiv. Allein dies ließ die Stückkosten von Produkten auf Basis der Kohlechemie steigen, wohingegen mit Erdöl und Erdgas deutlich günstigere Rohstoffe zur Verfügung standen. Hinzu kam ein weiterer Aspekt. Klassische Bayer-Produkte auf Basis der Kohlechemie wie Farbstoffe, Pflanzenschutzmittel oder Pharmazeutika wurden meist in vielfältigen Typen, dafür jedoch in kleineren Mengen produziert. Mit dem Aufstieg der Kunststoffe änderte sich dies allerdings. Im boomenden neuen Absatzbereich stiegen die Absatzmengen je Produkt erheblich. Kostenvorteile durch eine Vergrößerung der Produktionskapazitäten (economies of scale) spielten fortan eine zentrale Rolle. Die leichtere Verarbeitung von Erdöl und Erdgas als Rohstoffe der Chemieindustrie, insbesondere in sehr großen Mengen, war für diesen Prozess wegweisend. Diesen technologischen Rückstand erkannte die Unternehmensforschung der Bayer AG rasch. Forschungsarbeiten in diesem Bereich starteten spätestens im Jahr 1954.[8]
Das Risiko zum Einstieg in die neue Technologie wollte das Bayer-Management jedoch nicht alleine unternehmen. Mit dem Britischen Ölkonzern BP holten sich die Leverkusener einen erfahrenen internationalen Partner ins Boot. Auf diese Weise entstand 1957 neben dem Bayer-Werk in Dormagen das Joint-Venture Erdölchemie GmbH. Ebenfalls gelang es dem Unternehmen in nur wenigen Jahren im Bereich der Kunststoffforschung in die Weltspitze aufzurücken. Ausgehend von der Entdeckung des Syntheseverfahrens für Polyurethane durch Otto Bayer 1937 hatte das Unternehmen eine weltweit führende Stellung im Produktbereich der Lack- und Kunststoffe auf Polyurethanbasis aufgebaut. Lacke auf Polyurethanbasis vermarktete Bayer unter anderem unter dem Handelsnamen Desmodur, Schaumstoffe beispielsweise unter dem Handelsnamen Desmophen. 1953 fand der Uerdinger Chemiker Hermann Schnell (1916-1999) den Kunststoff Polycarbonat, den Bayer unter dem Handelsnamen Makrolon vertrieb. Beide Kunststofflinien blieben bis in die 2000er Jahre die Basis des sehr erfolgreichen Kunststoffproduktsortiments.
3.4 Personalentwicklung und Personalpolitik
Bayer startete bei der Neugründung 1951 mit einer Belegschaft von knapp 33.000 Personen. Das rasante Wachstum des Unternehmens bis 1970 schlug sich dabei auch im Mitarbeiterzuwachs nieder. 1970 arbeiteten etwa 62.000 Menschen bei Bayer und damit fast doppelt so viele wie 1951. Ebenso stark nahm in diesem Entwicklungskontext das akademische Personal zu, was sich insbesondere im Forschungs- und Entwicklungsbereich zeigte. Knapp 45 Prozent aller akademischen Angestellten waren 1972 in diesem Bereich tätig. 1951 waren es noch etwa 30 Prozent gewesen. Mit den wirtschaftlich instabileren 1970er Jahren endete das rasante Personalwachstum. Die Gesamtbelegschaft war seit dieser Zeit stärkeren Schwankungen unterworfen. Deutlich konstanter gestaltete sich die Entwicklung des akademischen Personals, das zwar ebenfalls langsamer, aber konstant zunahm. Ab Mitte der 1990er Jahre sank die Zahl der Bayer-Mitarbeiter vor allem in Deutschland bis zum Jahr 2005, was mit der Konzernumstrukturierung und der Ausgliederung von Geschäftsbereichen zusammenhängt, die weiter unten geschildert werden.[9]
Im Bereich der Mitbestimmung und Personalpolitik ging Bayer nach 1945 zügig neue Wege. Die entscheidende Figur war dabei der von Ulrich Haberland neu ernannte Personalchef Fritz Jacobi (1902-1974), der seit der Unternehmensneugründung auch Vorstandsmitglied war. Ebenso wie Haberland gehörte er zu den Vertretern einer sozialpartnerschaftlichen Linie und erkannte das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in sozialen Fragen grundsätzlich an. Damit hob sich die Bayer AG in den späten 1940er und den 1950er Jahren von anderen deutschen Unternehmen ab, da dieser Ansatz zu jener Zeit keineswegs Konsens in der deutschen Arbeitgeberschaft war. Den durch seinen Vorstandssitz gesicherten Einfluss- und Handlungsspielraum nutzte Jacobi in den 1950er Jahren für eine Modernisierung seines Tätigkeitsbereichs. Ausgehend von der Personalabteilung für Arbeiter setzte eine starke Professionalisierung der Personalpolitik ein. Stoßrichtung dieser mit Unterstützung Haberlands verfolgten Politik war es, die Beziehung zwischen dem einzelnen Arbeitnehmer und dem Unternehmen zu festigen und diesen in die „Bayer-Familie“ zu integrieren. Dieses nach 1945 etablierte Konzept der „Bayer-Familie“ führte das Unternehmen über viele Jahrzehnte weiter und wandte sich erst in den 1990er Jahren im Zuge des Konzernumbaus von ihm ab. Eine wichtige Basis dieses Ansatzes war die Einführung humanwissenschaftlich gestützter Personalmaßnahmen. Mit der im Folgenden geschilderten Neuorganisation des Unternehmens wurde die Personal- und Sozialabteilung schließlich zu einer umfassend ausdifferenzierten Abteilung. Mit ihrem akademischen Personal etablierte sie systematisch Maßnahmen, die die Personalbeurteilung und -führung sowie die interne Fort- und Weiterbildung für alle Beschäftigtengruppen des Unternehmens umfasste.
4. Wirtschaftliche Herausforderungen und der Weg zum internationalen Konzern 1970-2006
4.1 Organisationsänderungen und Unternehmensumbau Nach dem Wechsel im Amt des Vorstandsvorsitzenden durch den unerwarteten Tod Ulrich Haberlands 1961 leitete dessen Nachfolger Kurt Hansen Anfang der 1960er Jahre den Prozess zur Neuorganisation des Unternehmens ein. Die 1971 in Kraft tretende Neuorganisation erfolgte dabei in mehreren Schritten. In den Jahren 1965/1966 etablierte die Bayer AG als ersten Schritt ein hierarchisch abgestuftes Kommissionssystem. Damit stellte die Bayer AG die Steuerung des Unternehmens auf eine neue Grundlage, bei der die bis zu dieser Zeit starke Dominanz von Personen zurückging. Fortan wurden die Kommissionen zu den neuen Zentren der Entscheidungsfindung und Abstimmung der Aufgaben. Gleichzeitig durchbrach die Kommissionseinteilung die bisherige funktionale Organisation und bereitete die 1971 offiziell eingeführte Spartenorganisation vor. Diese war auf Produktgruppen wie Farben, Pharmazeutika oder Pflanzenschutzmittel ausgerichtet und vereinte die Unternehmensfunktionen Absatz, Produktion sowie Forschung und Entwicklung in sich. Die geschaffenen neun Sparten waren als Profitcenter konzipiert, die auf die Optimierung ihres Betriebsergebnisses ausgerichtet waren und die weitere Unternehmensentwicklung prägen sollten. Neben den Sparten entstanden neun Zentralbereiche, die die übergeordneten Funktionen wie das Personalwesen oder das Finanz- und Rechnungswesen zusammenfassten und für alle Sparten zuständig waren.
Mit dem Amtsantritt von Hermann-Josef Strenger (1928-2016) als Vorstandsvorsitzender, dem ersten Kaufmann an der Unternehmensspitze seit Gründerzeiten, führte die Bayer AG 1984 eine erneute Organisationsänderung durch. Diese war unter dem Hansen-Nachfolger Herbert Grünewald (1921-2002) seit 1980 vorbereitet worden. Kern war die Zusammenfassung der nun als Geschäftsbereiche firmierenden Sparten in sechs Sektoren.
Diese sollten dem immer stärkeren Fokus der Bayer AG auf das internationale Geschäft Rechnung tragen. Vor allem die Vorstandsmitglieder entlastete diese Organisationsänderung vom Tagesgeschäft und ermöglichte einen größeren Fokus auf die strategische Ausrichtung des Konzerns. Die strategische Ausrichtung sollte in den kommenden beiden Jahrzehnten von zentraler Bedeutung sein und die Bayer AG zu einem internationalen Konzern mit Sitz in Deutschland transformieren. Wichtige Schwerpunkte im Zuge dieser Neuausrichtung trug die Organisation von 1984 bereits in sich. Dazu zählt der Bedeutungszuwachs der Bereiche Pharmazeutika und Pflanzenschutz, die zu eigenständigen Sektoren aufstiegen. Die Sparten des Kunststoff-, Farbstoff- oder Grundchemikalienbereichs wurden hingegen zusammengefasst und auf mehrere Sektoren verteilt. Vom 1984 noch großen Sektor Agfa-Gevaert, der das Fotogeschäft umfasste, trennte sich Bayer 1999.
Der nächste organisatorische Umbruch erfolgte von 2001 bis 2003. In einem ersten Schritt baute die Bayer AG ihren immer noch bedeutenden Geschäftsbereich Chemikalien um, der ein breites Portfolio von Kunststoffen und Grundchemikalien umfasste. Die nun formierten Business Units schufen noch klarer abgegrenzte Geschäftseinheiten mit spezifischen Geschäftsstrategien. Diese waren funktional noch stärker integriert als die einstigen Sparten. Hinzu kam auf Konzernebene die Formierung einer Holdingsgesellschaft, die im Jahr 2003 in Kraft trat. Unter dem Konzerndach der Bayer AG existierten nun die vier Teilkonzerne Bayer HealthCare, Bayer Crop Science, Bayer Polymers und Bayer Chemicals. Polymers und Chemicals wurden 2005 zu Bayer Material Sciences zusammengefasst. Hinzu traten die drei Servicegesellschaften Bayer Business Services, Bayer Technology Services und lokale Standortdienste.
Mit dieser Organisationsform hatten die früheren Geschäftsfelder von Bayer ein hohes Maß an Eigenständigkeit erhalten und erhielten den Charakter eigener Unternehmen. Dies sollte für die weitere Entwicklung zum Lifescience-Konzern heutigen Zuschnitts entscheidend werden. Eine wichtige Grundlage dieser Entwicklung war der Bedeutungsgewinn von Aktionären und Kapitalmärkten für die Strategieentscheidungen des Unternehmens. Denn die Holdingstruktur erleichterte die Ausgliederung von Geschäftsbereichen erheblich. Der erste Schritt erfolgte bereits 2005, als Bayer die Chemieaktivitäten verbunden mit Teilen des Polymergeschäfts unter dem Namen Lanxess als eigenständiges Unternehmen an die Börse brachte. 2015 leitete Bayer schließlich den Prozess zur völligen Konzentration auf den Lifesciene-Bereich ein. Der Teilkonzern Material Science ging unter dem Namen Covestro als eigenständiges Unternehmen an die Börse. Mit dem Verkauf der zunächst gehaltenen Mehrheitsbeteiligung trennte sich die Bayer AG 2018 schließlich komplett von ihrem ehemaligen Teilkonzern.
4.2 Unternehmensforschung als Pionier der Schwerpunktsetzung
Mit der Neuorganisation von 1971 begann zudem ein Prozess der Schwerpunktsetzung. Ende der 1970er Jahre zeigte dieser Prozess erste praktische Konsequenzen. Die Bayer AG ging parallel zum Zukauf neuer Firmen und Beteiligungen dazu über, aus einigen Geschäftsfeldern durch den Verkauf von Unternehmensteilen auszusteigen. Besonders deutlich wurde diese Praxis im Massenkunststoffgeschäft. Seinen Ausgangspunkt hatte diese Entwicklung bereits in den 1960er Jahren. Im Zuge des Neuorganisationsprozesses begann eine an betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichtete Umstrukturierung der Unternehmensforschung. Ende der 1960er Jahre hatte die Bayer AG die interne Forschungskostenerhebung und -analyse neu aufgestellt. Dies erlaubte es, die Rendite einzelner Forschungsprojekte und Produkte zu berechnen. Die Renditerechnung bildete fortan den Erfolgsmaßstab der Unternehmensforschung.
War die Renditerechnung klar auf die nachträgliche Evaluation gerichtet, begann ab Mitte der 1970er Jahre ein weiterer, in die Zukunft gerichteter Schritt. Dazu engagierte die Bayer AG erstmals Consultingfirmen – eine Praxis, die ausgehend von den USA bei vielen anderen deutschen und europäischen Unternehmen längst verbreitet war. Im Zuge dessen führte die Bayer AG die Portfolioanalyse ein. Damit durchforstete das Unternehmen seine Produktpalette und klassifizierte einzelne Produkte oder auch ganze Produktgruppen nach ihrer künftigen Ertragsträchtigkeit. Kontext dieses Veränderungsschubs waren die wirtschaftlichen Herausforderungen, die ab den 1970er Jahren zunahmen. Die Zeit des rasanten Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit ging zu Ende. Der Konkurrenz- und Preisdruck stieg. Das Unternehmen konstatierte diese Veränderung hin zu einem Käufermarkt mit der Feststellung, dass es immer schwieriger wurde, für die entwickelten Produkte auch genügend Abnehmer zu finden. Wichtig wurde daher nun einzig und allein das Marktpotential neuer Produkte. Darunter fielen Aspekte wie die zu erwartende Zahl der Kunden, mögliche Konkurrenten sowie Preis- und Ertragsstrukturen. Die von der Forschung aus wissenschaftlicher und technologischer Sicht als gut und innovativ eingestuften Forschungsprojekte und Produkte mussten sich fortan dieser Analyse stellen.
Die Bedeutung dieses in der Forschung etablierten Prozesses ist keineswegs zu unterschätzen. Die Bayer AG setzte seit der Etablierung der unternehmenseigenen Forschung Ende des 19. Jahrhunderts konsequent und erfolgreich auf eine Strategie, neue und innovative Produkte in den Markt einzuführen, die der eigenen Forschung entstammten. Aufgrund des relativ langen Zeitraums von der Aufnahme der Arbeiten bis zur Markteinführung war die Etablierung der geschilderten betriebswirtschaftlichen Analyseinstrumente auf Forschungsebene eine einschneidende Weichenstellung. Bis zum Ausscheiden des langjährigen Forschungsleiters Otto Bayer Mitte der 1960er Jahre hatte dabei im weitgehend aus promovierten Chemikern zusammengesetzten Management das Vertrauen in die von der Forschung als zukunftsträchtig angesehenen Forschungs- und Entwicklungsprojekte die Arbeiten bestimmt. Eben dies änderte sich mit der Einführung der betriebswirtschaftlich ausgerichteten Analyseinstrumente radikal. Zum Ende der 1970er Jahre zeigte sie erste sichtbare Konsequenzen. Die letztlich ausgegliederten Unternehmensbereiche wurden einige Jahre zuvor forschungsintern bereits als wenig zukunftsträchtig eingestuft.
Insgesamt führte das betriebswirtschaftlich fokussierte Analyseraster im Kunststoffbereich zu einer Ausrichtung auf die weniger preissensiblen Spezial- und Hochleistungskunststoffe, die insbesondere die Polyurethan- und Polycarbonatfamilie umfassten. Den traditionsträchtigsten Bereich des Unternehmens, die Farbstoffe, gliederte das Bayer-Management komplett aus. Ihm wurde schon 1980 ein nachlassender Innovationsspielraum attestiert. Zusammen mit Hoechst gründete Bayer 1995 das Joint-Venture Dystar, in das beide ihr Farbstoffgeschäft einbrachten. Eindeutige Profiteure der neu eingeführten Analyseinstrumente waren hingegen die Sparten Pharmazeutika und Pflanzenschutz. Sie identifizierte man als die renditestärksten Bereiche. Beide boten das höchste Potential, äußert umsatz- und gewinnträchtige Produkte, sogenannte Blockbuster, hervorzubringen. Konsequenterweise erreichten die Bereiche Pharma und Pflanzenschutz bis 1985 einen Anteil von 57 Prozent an den gesamten Forschungsausgaben des Unternehmens, das zu diesem Zeitpunkt noch ein diversifiziertes Chemieunternehmen war. Auch mit Blick auf die großen Erfolgsprodukte von Bayer, die weitgehend aus dem Lifescience-Bereich stammten, bestätigte sich diese Entwicklung. Im Bereich Pharmazeutika kamen unter anderem 1973 das Antimykotikum (gegen Pilzerkrankungen) Canesten, 1975 das Herz-Kreislaufmittel Adalat, 1986 das Breitspektrum-Antibiotikum Ciprobay oder 2008 der Blutgerinnungshemmer Xarelto auf den Markt. Der Erfolg der Blockbuster schlug sich ab den 1970er Jahren in der Umsatzentwicklung nieder. Der Pharmabereich konnte seit dieser Zeit seinen Anteil am Gesamtumsatz deutlich ausbauen. Ende der 1980er Jahre lag der gesamte Geschäftsbereich Gesundheit bei den Umsatzzuwächsen weltweit an der Konzernspitze. Zudem prägte der Bereich Pharma immer stärker das Konzernergebnis. Diesen Bedeutungszuwachs konnte in etwas geringem Umfang auch der Pflanzenschutzsektor verbuchen. Hier gehörten beispielsweise das Unkrautbekämpfungsmittel Sencor seit 1971, das Fungizid (gegen Pilzerkrankungen) Bayleton seit 1976 oder das Insektizid (gegen Insekten) Confidor seit Anfang der 1990er Jahre zu den kommerziell sehr erfolgreichen Produkten. Gleichzeitig brachten diese Geschäftsfelder jedoch auch rechtliche Risiken mit sich. Vor dem in der Unternehmensgeschichte größten Rechtsstreit um das Pflanzenschutzmittel Glyphosat sah sich Bayer beispielsweise 2001 mit seinem bis dahin kommerziell sehr erfolgreichen Cholesterinsenker Lipobay einer Klagewelle ausgesetzt. Diese stürzte Bayers Pharmabereich zeitweilig in eine derart schwere Krise, dass die Fortführung dieses Geschäftsfeldes zur Disposition stand.
4.3 Investitionen als Motor der Internationalisierung
Die in den Analysen der Forschung identifizierte Renditeträchtigkeit des Pharma- und Pflanzenschutzbereichs fand auch im Zu- und Verkauf von Unternehmen(sbereichen) seinen Ausdruck. Als ein wichtiges Instrument dieser Politik fungierte dabei die kanadische Finanzierungsgesellschaft Bayforin. Über sie konnte die Bayer AG steuer- und kostengünstig Kapital am internationalen Finanzmarkt für die zunehmende Internationalisierung mobilisieren. Investierte das Leverkusener Unternehmen weiterhin in allen Geschäftsfeldern international bedeutende Summen in den Erwerb von Firmen, um die eigenen Marktposition zu verbessern, hob sich der Bereich Pharma- und Pflanzenschutz durch die starke Forschungskomponente in der Investitionspolitik ab. So unternahm Bayer in den 1970er Jahren große Zukäufe von forschungsstarken Pharmafirmen in den USA. 1974 kaufte man die Cutter Laboratories, 1978 die Miles Laboratories. Neben einer stärkeren Marktposition in den USA zielte Bayer hierbei auf die Erweiterung der eigenen Forschungsbasis. Neue Arbeitsgebiete standen ebenso im Fokus wie der Einstieg in die lange vernachlässigte Bio- und Gentechnologie. Mit dem Erwerb dieser Firmen gingen zudem massive Investitionen in die Bayer-Forschungseinrichtungen in den USA einher. 1988 eröffnete Bayer in West Haven, Connecticut, ein eigenes Pharmaforschungszentrum. Zur strategischen Akquisitionspolitik gehörte auch der Erwerb des Selbstmedikationsgeschäfts der Firma Sterling Winthrop 1994. Auf diese Weise kaufte Bayer die Rechte am Firmennamen Bayer in den USA zurück, die im Zuge des Ersten Weltkriegs verloren gegangen waren. Erst seit dieser Zeit konnte das Leverkusener Unternehmen in den USA wieder unter dem Namen Bayer auftreten. Einen der bedeutenden Zukäufe, der die Bedeutung der Pharmaaktivitäten des Konzerns massiv aufwertete, tätigte Bayer in Deutschland. 2006 erwarb Bayer das deutsche Traditionsunternehmen Schering für 17 Milliarden Euro. Dies stand insofern in einer langfristigen Tradition, als die Bayer AG auch in den 1980er Jahren trotz ihrer verstärkten internationalen Tätigkeit weiterhin bedeutenden Summen in ihre Aktivitäten und Standorte in Europa lenkte.
Neben dem Bereich Pharma investierte Bayer massiv in den Ausbau seines Pflanzenschutzgeschäfts. 1979 begann der Bau des Pflanzenschutzzentrums in Monheim am Rhein (Kreis Mettmann), der 1988 abgeschlossen war und ein Investitionsvolumen von 800 Millionen DM umfasste. Zudem baute Bayer seine Pflanzenschutzforschung in Japan aus und eröffnete 1985 ein großes Forschungszentraum in Yuki nahe Tokio. Ein wichtiger Schritt für den weiteren Geschäftsausbau erfolgte 2001. In diesem Jahr übernahm Bayer das Pflanzenschutzgeschäfts vom deutsch-französischen Konkurrenten Aventis, der 1999 aus der Fusion der Hoechst AG und Rhône-Poulenc entstanden war. Mit dem zu diesem Zeitpunkt größten Zukauf der Firmengeschichte rückte der Leverkusener Konzern in diesem Geschäftsfeld zur weltweiten Spitzengruppe auf. Diese Aktivitäten unterstreichen die gegen Ende des 20. Jahrhunderts immens gestiegene und schließlich dominierende Bedeutung des Auslandsgeschäfts für die Bayer AG. Bereits Mitte der 1980er Jahre hatte der Auslandsanteil am Umsatz des Bayer-Konzerns die 80 Prozentmarke erreicht. Bei einem weiterhin hohen Exportanteil beruhte der genannte Auslandsumsatz jedoch immer stärker auf Gesellschaften, die Bayer im Ausland erworben hatte und unterhielt. Insbesondere die USA rückten dabei Mitte der 1980er Jahre in die Spitzenposition auf und nahmen auch bei den getätigten Investitionen einen größeren Raum ein. Zur gleichen Zeit begann der Bedeutungszuwachs Asiens für das Bayer-Geschäft. Bereits in den 1980er Jahren identifizierte das Bayer-Management China als wichtigen Wachstumsmarkt, der seit dieser Zeit zunehmende Investitionen erfuhr und nach 2010 zum drittgrößten Markt aufstieg.
5. Ausblick: Die Übernahme von Monsanto
Im September 2016 gab Bayer bekannt, das umstrittene Agrochemieunternehmen Monsanto aus St. Louis, USA, für 66 Milliarden US-Dollar zu übernehmen. Dies war die mit Abstand größte Akquisition der Unternehmensgeschichte und eine der größten Auslandsübernahmen durch ein deutsches Unternehmen überhaupt. Als reiner Lifesciene-Konzern hatte die Bayer AG nach der Ausgliederung von Covestro einen klaren Schwerpunk im Bereich Pharmazeutika. Durch den Zukauf von Monsanto stieg sie nun zu einem der größten Agrochemiekonzerne der Welt auf. Der Unternehmensbereich Pflanzenschutz prägt seitdem die Umsatzentwicklung entscheidend.[10] Gleichzeitig übernahm das Leverkusener Unternehmen die gewaltigen rechtlichen Risiken des US-amerikanischen Konkurrenten. Monsantos umsatzstärkstes Produkt, das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat, stand 2016 schon seit Jahren in der Kritik, da es im Verdacht steht Krebs auszulösen. Zahlreiche Prozesse in den Vereinigten Staaten waren anhängig, etliche Urteile zu Lasten der Bayer AG folgten. Der Rechtsstreit und der den Klägern zugesprochene Schadensersatz kosteten den Leverkusener Konzern seit der Übernahme Milliarden Dollar. In der Folge ging der Kurs der Bayer-Aktie auf Talfahrt, zwischenzeitlich fiel der Börsenwert von Bayer unter den Preis, der für die Monsantoübernahme gezahlt worden war. Wohin die weitere Entwicklung geht, ist offen. Sicher scheint jedoch die Zukunft als multinationaler Konzern, dessen Standorte über den Globus verteilt sind, der aber weiterhin von Leverkusen aus geleitet wird.
Quellen
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Online
Namen, Zahlen, Fakten zu Bayer [Online]
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- 1: Verg/Plumpe/Schultheis, Meilensteine, S. 24.
- 2: Vgl. Hayes, Industry.
- 3: Erich Konrad: Der derzeitige Status des Kautschuk-Zentrallaboratoriums, 25.4.1949, in: BAL 329-1197.
- 4: Zur Neugründung: Friedrich Silcher/Oswald Rösler: Auszugsweise Niederschrift über die erste Sitzung des Aufsichtsrates der Firma Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft, 19.12.1951, in: BAL 206-012.
- 5: Exemplarisch dazu: Neufassung zu Ergebnis der Unterhaltung zwischen Herrn Prof. Dr. Winnacker und Prof. Dr. Haberland in Leverkusen am 8.7.1954, 7.9.1954, in: BAL 302-011.
- 6: Dazu Farbenfabriken Bayer AG, Geschäftsbericht 1952, S. 21 und Bayer AG, Geschäftsbericht 1970, S. I, 32-38.
- 7: Vgl. Otto Bayer: Aktennotiz betreffend die Umstellung der Wiss. Laboratorien auf kriegswichtige Probleme, 11.5.1942, in: BAL 015-012.
- 8: Siehe die Bestandsaufnahme durch Walter Krönig: Kracken von Rohöl zu Olefinen, 13.3.1957, in: BAL 048-004.
- 9: Siehe die Geschäftsberichte 1986-2005.
- 10: Siehe die Geschäftsberichte 2019 und 2020.
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Janneck, Rouven, Die Bayer AG nach 1945, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-bayer-ag-nach-1945/DE-2086/lido/646353c4c36d37.10295300 (abgerufen am 05.11.2024)