Deutsche, Franzosen und der Rhein

Julia Meier (Bornheim) & Daniel Schönbauer (Brühl)

Germania auf der Wacht am Rhein, Öl auf Leinwand von Lorenz Clasen (1812-1899), 1860. (Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld)

1. Einleitung

My­then hel­fen, ein kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis her­zu­stel­len und sind Grund­la­ge der Exis­tenz ei­ner Na­ti­on. Der „My­thos Rhein“ kann als solch ein My­thos be­trach­tet wer­den. Er ver­mit­telt ein Ge­fühl des Wei­ter­le­bens der Ver­gan­gen­heit und be­wies sich als ei­ne Mög­lich­keit, die Er­in­ne­rung an die Ge­schich­te zu be­wah­ren und zu re­ak­ti­vie­ren. Nach Lu­ci­en Feb­v­re ha­be die­ser in sei­ner Ge­schich­te zwei Ge­sich­ter: ei­ner­seits der ver­bin­den­de Rhein als Ver­kehrs­weg zwi­schen den Re­gio­nen Eu­ro­pas, an­de­rer­seits der tren­nen­de Rhein als Gren­ze und Ort der Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen la­tei­nisch und ger­ma­nisch ge­präg­ten Kul­tu­ren. So wur­de er von deut­scher Sei­te als „deut­scher Strom“ von fran­zö­si­scher Sei­te je­doch als „na­tür­li­che Gren­ze“ an­ge­se­hen.  

2. Der Rhein: Teil des Orbis Romanus

Die Kul­tur­ge­schich­te des Rheins als po­li­tisch be­deut­sa­mer Strom be­gann mit den Gal­li­schen Krie­gen Ju­li­us Cae­sars (100-44 v.Chr.) in den Jah­ren 58-50 v.Chr. Die west­li­chen Ge­bie­te des Rheins stan­den fort­an un­ter rö­mi­scher Ver­wal­tung und blie­ben es bis cir­ca 200 n. Chr.[1]. Dem­entspre­chend wur­de der Rhein als Gren­ze zu den recht­rhei­ni­schen „Bar­ba­ren­völ­ker ger­ma­ni­scher Stäm­me“ wahr­ge­nom­men und die links­rhei­ni­schen Ge­bie­te rück­ten ins Be­wusst­sein der rö­mi­schen Kul­tur[2]. Im stra­te­gi­schen Kon­zept Cae­sars hat­te der Rhein den Cha­rak­ter ei­ner „na­tür­li­chen Gren­ze“ Gal­li­ens und un­ter­mau­er­te den An­spruch Roms auf die nörd­li­chen Pro­vin­zen[3].

 

Der Rhein war zu die­ser Zeit ei­ne be­deu­ten­de Han­dels- und Ver­kehrs­ader zwi­schen Nord und Süd. Die Rö­mer nutz­ten ihn seit der Herr­schaft des Ti­be­ri­us (42 v.-37 n. Chr. Kai­ser 14-37 n. Chr.) als „Ba­sis für ih­re Ope­ra­tio­nen nach Ger­ma­ni­en hin­ein und als rück­wär­ti­ge Auf­fang­li­nie“[4]. Als ers­te li­te­ra­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung setz­te Ver­gil (70-19 v. Chr.) die Vor­stel­lung des rhe­nus bi­cor­nis durch und lie­fer­te so die Grund­la­ge da­für, den Rhein als Fluss­gott zu be­trach­ten, auf die letzt­lich der My­thos des „Va­ter Rhein“ zu­rück­zu­füh­ren ist[5]. Be­reits zu die­ser Zeit wur­den die ma­jes­tä­ti­sche Schnel­lig­keit und Län­ge des Rheins her­vor­ge­ho­ben.[6]

Er­obe­rung hieß je­doch zu­gleich Er­rich­tung ei­ner In­fra­struk­tur mit straf­fer rö­mi­scher Ver­wal­tung. So­nach ent­stand ein Netz von Stra­ßen und We­gen, wel­ches un­ter an­de­rem Le­gi­ons­la­ger und Städ­te am Rhein mit­ein­an­der ver­band. Das po­si­ti­ve Bild des Rheins ver­stärk­ten zu­dem der Fisch­reich­tum, die Land­gü­ter, der im mil­den Kli­ma ge­dei­hen­de Wein und die war­men Quel­len[7]. Tüm­mers fasst die Be­deu­tung des Rheins für das rö­mi­sche Reich fol­gen­der­ma­ßen zu­sam­men: „Der Rhein in sei­nen fünf Jahr­hun­der­ten war ein Land­strich mit pul­sie­ren­dem Le­ben, blü­hen­der Kul­tur, Teil des Or­bis Ro­ma­nu­s“.[8] 

3. Der Rhein: Zentrum des Reiches

Das En­de der Blü­te­zeit der Rö­mer am Rhein be­gann Mit­te des 3. Jahr­hun­derts n. Chr. im Zu­ge der Völ­ker­wan­de­rung[9]. In der Zeit der Aus­deh­nung der ger­ma­ni­schen Kul­tur von den An­fän­gen Deutsch­lands am Rhein zu spre­chen ist schwer zu recht­fer­ti­gen, da ein Na­tio­nal­be­wusst­sein nicht aus­ge­bil­det war und kul­tu­rel­le, po­li­ti­sche und ge­sell­schaft­li­che Dif­fe­ren­zen nicht zu ne­gie­ren sind[10]. Der Rhein war in das ri­tu­el­le Le­ben der Be­völ­ke­rung ein­ge­bun­den, be­vor zu­nächst die rö­mi­sche Fluss­göt­ter­welt den Rhein auf­nahm und die Ver­eh­rung des Rheins durch die Chris­tia­ni­sie­rung im 3. Jahr­hun­dert n. Chr. ver­drängt wur­de. In Fol­ge der Aus­wei­tung der po­li­ti­schen Macht­be­rei­che über die links­rhei­ni­schen Ge­bie­te hin­aus, ver­lor der Rhein sei­ne Funk­ti­on als Gren­ze und avan­cier­te zu ei­ner Ach­se des Rei­ches[11].

Darstellung des 'Rhenus bicornis', Teil eines Grabmals aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., Original im LVR-LandesMuseum Bonn, Foto: Jürgen Vogel. (LVR-LandesMuseum Bonn)

 

Ei­ne ent­schei­den­de Zä­sur war der Be­ginn der Herr­schaft der Ka­ro­lin­ger am En­de des 7. Jahr­hun­derts. Zur Zeit Karls des Gro­ßen war das Rhein­land Zen­trum und der Rhein zen­tra­le Ver­kehrs­ader des Rei­ches[12]. Nach dem Zer­fall des Gro­ß­rei­ches im Zu­ge des To­des Lud­wigs des From­men (778-840, Kö­nig 781/814, Kai­ser 813-840) ei­nig­ten sich sei­ne Söh­ne im Tei­lungs­ver­trag von Ver­dun im Jah­re 843 auf ei­ne Drei­tei­lung des Rei­ches in dem der Rhein teil­wei­se durch das Mit­tel­reichs Lo­thars I. (Kö­nig 840-855, ab 843 Kai­ser) und teil­wei­se das Ost­reichs Lud­wigs des Deut­schen (Kö­nig 843-876) floss[13]. Stel­len­wei­se je­doch war der Rhein zu­dem auch Gren­ze zwi­schen Ost- und Mit­tel­reich[14]. Die­ser Ver­tag wur­de im 19. und 20. Jahr­hun­dert oft als Be­ginn deut­scher Iden­ti­tät ver­stan­den und band das Kon­strukt ei­ner na­tio­na­len Ge­schich­te an das Rhein­land[15].

Nach der Auf­tei­lung Lo­tha­rin­gi­ens im Ver­trag von Meer­sen 870 und der Zu­wei­sung zum West­fran­ken­reich im Ver­trag von Ri­bé­mont 880, der die Gren­ze mar­kier­te, die spä­ter auf Jahr­hun­der­te West- und Ost­fran­ken­reich, Frank­reich und Deutsch­land trenn­te, fiel die­ses 925 an das Ost­fran­ken­reich Hein­richs I. (Kö­nig 919-936). Zwar wand­te sich Lo­tha­rin­gi­en nach dem Tod Lud­wigs des Kin­des (Kö­nig 900-911) den west­frän­ki­schen Ka­ro­lin­gern zu, doch die Nie­der­la­gen Karls III. (Kö­nig 876-888, ab 881 Kai­ser) führ­ten den­noch da­zu, dass Lo­tha­rin­gi­en 925 er­neut Teil des von Hein­rich I. re­gier­ten Ost­fran­ken­rei­ches wur­de[16]. Auch die­ses Da­tum wur­de im 20. Jahr­hun­dert in­stru­men­ta­li­siert und so wur­den 1925 tau­send Jah­re der rhei­ni­schen Zu­ge­hö­rig­keit zu Deutsch­land ge­fei­ert, wo­bei je­doch miss­ach­tet wur­de, dass die Reichs­tei­lun­gen eth­ni­sche und sprach­li­che Gren­zen nicht be­rück­sich­tig­ten[17].

Auf­grund der Funk­ti­on von Aa­chen  und Spey­er als Or­te der Krö­nung be­zie­hungs­wei­se Bei­set­zung der Kai­ser, blieb der Rhein lan­ge Zeit Zen­trum des Rei­ches[18]. Erst mit der un­ter Ru­dolf von Habs­burg (rö­misch-deut­scher Kö­nig 1273-1291) be­gin­nen­den Ori­en­tie­rung des Rei­ches gen Os­ten ge­riet das Rhein­land in ei­ne Rand­la­ge und ent­fern­te sich vom Kö­nig­tum[19]. Zu­dem kam es zu Au­to­no­mie­be­we­gun­gen und in grö­ße­ren Städ­ten zur Aus­bil­dung ei­nes kom­mu­na­len Selbst­be­wusst­seins, wel­ches aber auf die Ober­schicht be­grenzt blieb[20]. Das deut­sche Kö­nig­tum ver­lor im Spät­mit­tel­al­ter ste­tig an Macht, wäh­rend Frank­reich zu ei­nem zen­tra­lis­ti­schen Staat her­an­wuchs[21].

4. Der Rhein: Grenze zwischen Ost und West

Fort­an lässt sich ei­ne Öff­nung des Rhein­lands zum Wes­ten fest­stel­len, es wur­de zum Ob­jekt west­eu­ro­päi­scher Bünd­nis­po­li­tik[22]. Ziel war im 9. und 10. Jahr­hun­dert die Ver­schie­bung der Ost­gren­ze und die Wie­der­ge­win­nung Lo­tha­rin­gi­ens. Für Karl den Ein­fäl­ti­gen (Kö­nig 893/898-923) er­streck­te sich das frän­ki­sche Reich von den Py­re­nä­en bis zum Rhein, Ost­fran­ken zähl­te er nicht mehr da­zu. Gro­ße deu­tet dies als ei­nen Ver­such Karls, die ge­samt­frän­ki­sche Tra­di­ti­on für sich al­lein zu be­an­spru­chen[23]. Als his­to­ri­sche Wur­zel stieß der west­frän­ki­sche Mönch Ri­cher (nach 940-nach 998) auf die „Gal­li­a“, die nach Cae­sar von den Py­re­nä­en, den Al­pen und dem Rhein be­grenzt war. Nach sei­ner „His­toire de Fran­ce“ bil­de­te das an­ti­ke Gal­li­en den Raum, in dem sich west­frän­ki­sche Ge­schich­te ab­spiel­te. Die­ser Be­zug blieb im Ge­dächt­nis des west­frän­ki­schen Rei­ches und des spä­te­ren Frank­reichs haf­ten. Es bil­de­te nach Rolf Gro­ße ei­ne Grund­la­ge für das Kon­zept der „na­tür­li­chen Gren­ze“, da in den mit­tel­al­ter­li­chen Quel­len der Gal­li­en­be­griff nicht im­mer ein­heit­lich ge­braucht wird. Ne­ben der aus der An­ti­ke stam­men­den Be­deu­tung von Gal­lia trat ei­ne Gal­lia im en­ge­ren Sin­ne, die nur den tat­säch­li­chen Herr­schafts­be­reich des fran­zö­si­schen Kö­nigs mein­te. Dem­ge­gen­über ori­en­tier­te sich die Kir­che an den spät­rö­mi­schen Ver­wal­tungs­ein­hei­ten, für die der Rhein die Gren­ze zwi­schen Gal­li­en und Ger­ma­ni­en bil­de­te. Den Zeit­ge­nos­sen war so­mit die Vor­stel­lung, Gal­li­en rei­che bis zum Rhein, stets prä­sent und bot seit­her die Mög­lich­keit, po­li­tisch in­stru­men­ta­li­siert zu wer­den[24].

Lan­ge leb­ten die bei­den Staa­ten oh­ne ernst­haf­te Pro­ble­me ne­ben­ein­an­der, je­doch ent­wi­ckel­ten sich ih­re ge­sell­schaft­li­chen Struk­tu­ren in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen. In Frank­reich er­fuhr die Zen­tral­ge­walt des Kö­nigs ei­ne stän­di­ge Stär­kung, wäh­rend die deut­schen Kö­ni­ge und Kai­ser dar­auf an­ge­wie­sen wa­ren, Prä­senz im gan­zen Reich zu zei­gen[25]. An der Wen­de vom 13. zum 14. Jahr­hun­dert wa­ren Maas und Schel­de, und nicht der Rhein, Ziel der fran­zö­si­schen Po­li­tik[26]. Die­ser rück­te erst im Rah­men der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen den Häu­sern Bour­bon und Habs­burg in die In­ter­es­sensphä­ren der bei­den Mäch­te[27].

5. Der Rhein: Dreh- und Angelpunkt der europäischen Politik

Die Frü­he Neu­zeit zeich­ne­te sich durch Glau­bens- und Erb­fol­ge­krie­ge aus, in de­nen das Rhein­land Kriegs­schau­platz und der Rhein Dreh- und An­gel­punkt reichs­in­ter­ner und eu­ro­päi­scher Po­li­tik wur­de. In der Fol­ge wur­den Tei­le des Rhein­lands ver­wüs­tet und zer­stört[28]. Als Bei­spiel lässt sich der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg an­füh­ren, in dem das Rhein­land durch sta­tio­nier­te Hee­re wirt­schaft­lich ge­schwächt wur­de. Auch der West­fä­li­sche Frie­den ver­moch­te es nicht, die Stel­lung der Rhein­ge­bie­te zu ver­bes­sern, da sie auf­grund ih­rer geo­gra­phi­schen La­ge im­mer wie­der in Kon­flik­te zwi­schen Habs­bur­gern und Bour­bo­nen ver­wi­ckelt wur­den[29]. Letzt­lich führ­te die­se wirt­schaft­li­che Frus­tra­ti­on zu­sam­men mit den Er­geb­nis­sen des West­fä­li­schen Frie­dens zu ei­ner zu­neh­men­den Dis­tan­zie­rung vom Hau­se Habs­burg und trotz re­li­giö­ser Dif­fe­ren­zen zu ei­nem pro-fran­zö­si­schen Kli­ma[30]. Frank­reich be­hielt am En­de des Krie­ges Tei­le des El­sass, er­hielt Metz, Toul und Ver­dun und konn­te so an die Ufer des Rheins vor­drin­gen[31].

Bis zum An­fang des 17. Jahr­hun­derts konn­te der Rhein noch als Strom der Na­tio­nen be­zeich­net wer­den, der sich als Ach­se zwi­schen Frank­reich und dem Hei­li­gen Rö­mi­schen Reich Deut­scher Na­ti­on, ge­kenn­zeich­net durch po­li­ti­sche Zer­ris­sen­heit, er­streck­te. Im 17. Jahr­hun­dert war es Ziel des Mi­nis­ters Ri­che­lieu (1585-1642), die na­tür­li­chen Gren­zen Frank­reichs wie­der­zu­ge­win­nen und die­se ge­gen die habs­bur­gisch-spa­ni­sche Ein­krei­sung zu si­chern. In sei­nem Tes­ta­ment un­ter­strich er die­sen An­spruch: „Le but de mon mi­nis­tè­re à été de re­sti­tu­er à la Gaul­le les li­mi­tes que la na­tu­re lui a fi­xées, de fai­re, coïn­ci­der la Gaul­le avec la Fran­ce, et, par­tout, où a exis­té l’an­ci­en­ne Gaul­le, de re­sti­tu­er la nou­vel­le“.[32] 

Karl (links mit seinem Sohn Pippin von Italien (rechts)), aus dem Liber legum des Lupus Ferrariensis, Original in der Biblioteca Capitolare in Modena, 10. Jahrhundert.

 

Je­doch wur­de der Rhein wäh­rend der Herr­schaft Lud­wigs XIV. (Re­gie­rungs­zeit 1643-1715) zu ei­nem um­kämpf­ten Fluss[33]. Lud­wig ziel­te auf die An­ne­xi­on der Rhein­gren­ze, mach­te sich deut­sche Fürs­ten wie den Erz­bi­schof von Trier durch ein Sys­tem von Pen­si­ons­zah­lun­gen ge­fü­gig und schür­te so das an­ti-habs­bur­gi­sche Kli­ma im Rhein­land. In Ver­bin­dung mit sei­nen Er­obe­rungs­krie­gen „riss [er] Stück um Stück aus deut­schem Ter­ri­to­ri­um her­aus“.[34] Auf­grund ei­nes feh­len­den Na­tio­nal­be­wusst­seins und des Kon­tras­tes zwi­schen ar­chai­schen und mo­der­nen, fran­zö­si­schen Wer­ten war es nicht mög­lich, den Rhein als ver­bin­den­de Ach­se zu eta­blie­ren[35]. Die fran­zö­si­sche Spra­che wur­de Spra­che der Di­plo­ma­tie und Frank­reich zum Vor­bild ei­ner ab­so­lu­tis­ti­schen Mon­ar­chie, was bei­spiels­wei­se an fran­zö­si­schen Bau­wer­ken ent­lang des Rheins sicht­bar ist[36]. So pen­del­te das Rhein­land zur Zeit der Auf­klä­rung zwi­schen den ri­va­li­sie­ren­den Na­tio­nen[37]. Je­doch stell­ten Ku­fer, Guin­au­deau und Pre­mat her­aus, dass der äu­ße­re Schein täusch­te, denn Frank­reich war fi­nan­zi­ell rui­niert und am En­de sei­ner Herr­schaft ha­be Lud­wig XIV. sein Ziel, den Rhein als fran­zö­si­sche Ost­gren­ze zu be­sit­zen, nicht er­reicht[38]: „Der Rhein war Lud­wig XIV. zum Ver­häng­nis ge­wor­den“[39]. So konn­te er in Fol­ge des Pfäl­zi­schen Krie­ges zwar das El­sass be­hal­ten, muss­te je­doch al­le rechts­rhei­ni­schen Be­sit­zun­gen wie­der ab­tre­ten. En­de des 18. Jahr­hun­derts ent­stand je­doch die Idee des schöp­fe­ri­schen Deutsch­tums, ein My­thos, den an­geb­lich das Mit­tel­al­ter - zum Bei­spiel das Rit­ter­tum und die Go­tik - und die Mo­der­ne - zum Bei­spiel die Re­for­ma­ti­on - her­vor­ge­bracht ha­ben. Die­ser My­thos, zu dem auch die Idea­li­sie­rung des Rheins ge­hört, ver­dräng­te das Ide­al der fran­zö­si­schen Kul­tur[40]. Die­ser ide­el­le Kon­flikt am Rhein wur­de ein po­li­ti­scher, da der Strom zwi­schen zwei Kul­tur­gren­zen lag, die Zu­ge­hö­rig­keit lan­ge nicht klar de­fi­niert war und sich das wach­sen­de Na­tio­nal­be­wusst­sein der Deut­schen zu­neh­mend durch die Op­po­si­ti­on zu Frank­reich de­fi­nier­te[41].

6. Der Rhein: Die natürliche Grenze Frankreichs?

„Der Rhein ist die na­tür­li­che Gren­ze ei­nes Frei­staa­tes, der [...] nur die Na­tio­nen, die sich frei­wil­lig an­schlie­ßen, auf­nimmt...der Rhein wird [...] die Gren­ze Frank­reichs blei­ben. Die Na­tur selbst hat den Rhein zur Gren­ze Frank­reichs ge­mach­t“[42], schrie­b Ge­org Fors­ter (1754-1794) am 15.11.1792 über ei­ne mög­li­che An­ne­xi­on des Rheins im Zu­ge der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on. Die­se war von zen­tra­ler Be­deu­tung für die wei­te­re Ent­wick­lung der Rhein­pro­ble­ma­tik. Nach dem Ein­marsch der fran­zö­si­schen Trup­pen in das Rhein­land 1792 ließ As­tol­phe de Cus­ti­ne (1740-1793) ei­ne Be­sat­zungs­herr­schaft im her­kömm­li­chen Sinn er­rich­ten. Sei­ne Pro­kla­ma­ti­on vom 23.10.1792 soll­te da­zu füh­ren, dass die Be­sat­zung in al­len Ge­bie­ten ei­ner dop­pel­ten Be­frei­ung dien­te, ei­ner „for­ma­len“, in­dem sie den Be­setz­ten Frei­heit bei der Be­stim­mung ih­rer po­li­ti­schen Zu­ge­hö­rig­keit ein­räum­te, und ei­ner „ma­te­ri­el­len“, in­dem sie ih­nen die Rea­li­sie­rung der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­ons­ide­en von Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit bot[43]. Zu­nächst er­schie­nen die Fran­zo­sen als „Be­frei­er“ und in Stadt und Land wur­den Frei­heits­bäu­me er­rich­tet. Je­doch muss­ten die Rhein­län­der be­grei­fen, dass Frank­reich un­ter „Be­frei­un­g“ die Aus­brei­tung sei­ner ei­ge­nen Ord­nung ver­stand. Frank­reich wie­der­rum muss­te er­ken­nen, dass sein Be­frei­ungs­an­ge­bot auch re­vo­lu­ti­ons­feind­li­che Kräf­te mo­bi­li­siert hat­te[44]. Erst wäh­rend der Herr­schaft Na­po­le­ons fiel der Rhein mit dem Frie­dens­ver­trag von Lun­é­vil­le 1801 in sei­ner ge­sam­ten Län­ge in fran­zö­si­sche Hand. Na­po­le­on wur­de von den Rhein­län­dern als „Cae­s­ar“ für die Wie­der­be­le­bung des Han­dels und der Re­li­gi­on ge­fei­ert.

Porträt des französischen Königs Ludwig XIV (1638-1715), Öl auf Leinwand von Hyacinthe Rigaud (1659-1743), Original im Musée du Louvre, 1702. (public domain)

 

Be­reits 1798 be­wirk­te François Jo­seph Rud­ler (1757-1837) im Rah­men sei­ner „gou­ver­ne­men­ta­len Re­vo­lu­ti­on“ die Ein­füh­rung fran­zö­si­schen Rechts, fran­zö­si­scher In­sti­tu­tio­nen und die Glie­de­rung des Lan­des links des Rheins in vier De­par­te­ments (Don­ners­berg, Rhein-Mo­sel, Saar und Ro­er). Per De­kret wur­de die Ge­wer­be­frei­heit er­klärt und es be­gann der Auf­stieg des Wirt­schafts­bür­ger­tums. Fran­zö­sisch wur­de zur Amts- und Ge­richts­spra­che[45]. Die fran­zö­si­sche Kul­tur­po­li­tik ver­folg­te zu­sätz­lich das Ziel der „Er­zeu­gung und Kräf­ti­gung fran­zö­si­schen Na­tio­nal­ge­fühls im Rhein­lan­d“[46]. 1804 wur­de schlie­ß­lich auch der Code Ci­vil in den Rhein­lan­den ein­ge­führt.

Nach Struck war die Zeit von 1800 bis 1815 ei­ne In­ku­ba­ti­ons­zeit na­tio­na­len Den­kens und der Ein­gren­zung der Na­ti­on, in der Zwi­schen­räu­me wie die Rhein­lan­de, die tra­di­tio­nell von so­wohl fran­zö­si­schen wie auch deut­schen Kul­tur­ein­flüs­sen ge­prägt wa­ren, zu ei­ner Gren­ze, die Deutsch­land und Frank­reich zu­neh­mend trenn­te. Es fan­den ei­ne „Na­tio­na­li­sie­rung der Geo­gra­phie“ und die „Er­fin­dung der na­tio­na­len Gren­ze“ statt[47].

Fors­ter, der Pu­bli­zis­t Jo­seph Gör­res und vie­le Rhein­län­der glaub­ten, das Rhein­land wür­de von ei­ner „Ré­uni­on“ und den Pri­vi­le­gi­en der Re­vo­lu­ti­on pro­fi­tie­ren[48]. Das Kon­zept der na­tür­li­chen Gren­ze eta­blier­te sich in Frank­reich als po­li­ti­sche und mo­ra­li­sche For­de­rung ab 1789 und wur­de schlie­ß­lich in den Er­obe­rungs­krie­gen Na­po­le­ons macht­po­li­tisch in­stru­men­ta­li­siert[49]. Ab April 1792 führ­ten Frank­reich und das Hei­li­ge Rö­mi­sche Reich deut­scher Na­ti­on Krieg, in dem der Rhein schlie­ß­lich fran­zö­sisch wur­de[50]. Die Er­obe­rungs­zü­ge, die am Rhein nicht Halt mach­ten, führ­ten das Ar­gu­ment der na­tür­li­chen Gren­zen selbst ad ab­sur­dum[51]. Die Be­sat­zer mein­ten, dass sie die Rhein­län­der zum An­schluss zwin­gen durf­ten, da sie von Na­tur aus zu Frank­reich ge­hör­ten[52]. Von Be­frei­ung kann al­ler­dings nicht ge­spro­chen wer­den, da es den Be­sat­zern nicht dar­um ging, Frei­heit in das Rhein­land zu brin­gen, son­dern le­dig­lich ih­re ei­ge­ne zu be­wah­ren. So­mit wur­de die Be­sat­zung oft als Fremd­herr­schaft wahr­ge­nom­men[53]. Den­noch führ­te die Re­uni­ons­po­li­tik zu ei­nem Wan­del der rhei­ni­schen Ge­sell­schaft, da un­ter an­de­rem der Code Ci­vil ein­ge­führt wur­de[54]. Durch die neu­ge­won­ne­nen Pri­vi­le­gi­en gab es zu­nächst kaum Wi­der­stand ge­gen die na­po­leo­ni­sche Herr­schaft. Als je­doch Zwangs­re­kru­tie­run­gen und Ab­ga­be­po­li­tik in das Le­ben der Rhein­län­der Ein­zug hiel­ten und sich der Rhein als Zoll­gren­ze eta­blier­te und da­her als wirt­schaft­li­che Schwä­chung er­wies, schlug die Stim­mung um[55]. Die Be­sat­zung führ­te zu­dem zur Ver­tie­fung ei­nes na­tio­na­len Den­kens, so­dass fort­an fran­zö­si­sche Kon­zep­te wie Frei­heit, Selbst­be­stim­mung und die Ein­heit des deut­schen Vol­kes ge­for­dert wur­den[56]. Der Ver­lust der links­rhei­ni­schen Ge­bie­te zei­tig­te ei­nen am Rhein ori­en­tier­ten Pa­trio­tis­mus, in dem der Strom ge­wis­ser­ma­ßen hei­lig und zu ei­nem Sym­bol der Deut­schen in Ab­gren­zung zu den Fran­zo­sen sti­li­siert wur­de[57]. Wenn­gleich hier von idea­lis­ti­schen Vor­stel­lun­gen die Re­de sein kann, wird der Rhein­my­thos durch das na­tio­na­le Den­ken der Deut­schen zum po­li­ti­schen Fak­tor[58].

 

7. Der Rhein: Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze

Als der 1806 ge­grün­de­te Rhein­bund auf dem Wie­ner Kon­gress auf­ge­löst wur­de, über­nahm Preu­ßen wi­der­wil­lig die „Wacht am Rhein“. Die Rhein­län­der be­fürch­te­ten, dass dies die Neue­run­gen der fran­zö­si­schen Herr­schaft ge­fähr­den könn­te[59]. Die Hoff­nung auf bür­ger­li­che De­mo­kra­tie und na­tio­na­le Ein­heit, die als Rück­be­sin­nung auf das ro­man­ti­sier­te Mit­tel­al­ter und den fran­zö­si­schen Na­tio­nal­staat ge­wer­tet wer­den kann, wur­de auf­grund der Po­li­ti­k Met­ter­nichs nicht er­füllt[60]. Es wa­ren die­se staats­recht­li­chen Ver­än­de­run­gen, die Schrift­stel­ler da­zu zwan­gen, in der Li­te­ra­tur ih­re Frei­heits­sehn­süch­te aus­zu­le­ben. Die Rhein­re­gi­on eig­ne­te sich be­son­ders für ein ge­schicht­li­ches Kon­strukt, da sie bei Kri­sen­zei­ten oft in ei­nem pro­ble­ma­ti­schen geo­gra­phi­schen Kon­text stand[61]. Rhein­län­der und Preu­ßen wa­ren po­li­tisch und re­li­gi­ös von­ein­an­der ent­fernt und fan­den sich 1815 in ei­ner Zwangs­liai­son wie­der[62]. So zeigt der dem Köl­ner Ban­kier Schaaf­hau­sen zu­ge­schrie­be­ne Aus­spruch (ob ge­tan oder nicht) „Jes­ses, Mar­je, Jo­sef do hie­ro­de mir äv­ver in en ärm Fa­mil­li­ch“, wie skep­tisch die Rhein­län­der den neu­en Herr­schern ge­gen­über­stan­den[63]. Die­se Ab­leh­nung ist je­doch nicht ver­gleich­bar mit der Feind­schaft zu Frank­reich, mit dem das un­ge­lös­te Pro­blem der Rhein­fra­ge be­stand[64]. Die pa­trio­ti­sche Be­geis­te­rung mo­bi­li­sier­te Schrift­stel­ler wie Ernst Mo­ritz Arndt[65], der 1813 in sei­ner Schrift „Der Rhein, Teutsch­lands Strom, aber nicht Teutsch­lands Grän­ze“ da­zu auf­rief, auf den Rhein zu bli­cken[66]: „Was se­het ihr? Ihr se­het das Land, das euch an die herr­lichs­ten [...] Kämp­fe eu­res Vä­ter mah­net, die [...] hei­ligs­ten Er­in­ne­run­gen des Rei­ches der Teut­schen, die Wie­ge eu­rer Bil­dung, die Städ­te, wo eu­re Kai­ser ge­wählt, ge­krönt und ge­salbt wur­den [er­in­nert].“[67]

Bis­lang war der Rhein, wenn­gleich nicht mit Hass­ge­füh­len auf­ge­la­den, ei­ne Gren­ze zwi­schen Frank­reich und den deut­schen Län­dern[68]. Wäh­rend En­de des 18. Jahr­hun­derts das Kon­zept der fron­tiè­re na­tu­rel­le nicht kri­ti­siert wur­de, soll­te der Rhein nach 1815 Aus­gangs­punkt deut­scher Kul­tur wer­den und konn­te so­mit kei­ne Gren­ze mehr sein[69]. Arndt sah den Rhein zu­dem als Sym­bol des fran­zö­si­schen Ex­pan­sio­nis­mus[70]. In sei­ner Uto­pie ei­nes rhe­no­zen­tri­schen Deutsch­lands ar­gu­men­tier­te er ge­gen die fran­zö­si­sche Rhein­po­li­tik und wi­der­leg­te sie: „was sind die Na­tur­grän­zen ei­nes Vol­kes? Ich sa­ge: die ein­zi­ge gül­ti­ge Na­tur­grän­ze macht die Spra­che“.[71] Viel­mehr kön­ne die deut­sche Frei­heit oh­ne den Rhein nicht be­ste­hen[72]. Sei­ne Schrift zün­de­te die na­tio­na­le Be­geis­te­rung für die Be­frei­ung des Rheins, zu der auch Karl Frei­herr vom und zum Stein (1757-1831) und Wil­helm von Hum­boldt (1767-1835) ge­hör­ten[73]. Wie Hein­rich Hei­ne mit sei­ner rhe­to­ri­schen Fra­ge und Ant­wort: „Was liebt er aber? In kei­nem Fall die Preu­ßen“ zu wis­sen schien, nahm die Kri­tik an der preu­ßi­schen Herr­schaft nicht ab[74]. Tüm­mers fasst die Ver­bin­dung der Zeit der Be­frei­ung von Frank­reich mit der Rhein­ro­man­tik mit den Wor­ten: „Die ur­sprüng­lich nur li­te­ra­ri­sche Zu­nei­gung ei­nes klei­nen Krei­ses von Dich­ter zum Rhein wur­de durch die Be­frei­ungs­krie­ge und die va­ter­län­di­sche Be­geis­te­rung mil­lio­nen­fach ver­stärk­t“ zu­sam­men. Fort­an be­gan­nen die Deut­schen den Rhein als ur­al­ten Deut­schen Strom zu prei­sen[75] .

Ernst Moritz Arndt, Porträt mit Signatur. (Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn)

 

8. Der Rhein: Innbegriff der romantischen Landschaft

Der Rhein hat­te bis­lang kaum je­man­den zu poe­ti­schen Er­güs­sen sti­mu­liert. Viel­mehr herrsch­te das Bild vom „ei­si­gen Rhein in den un­wirk­li­chen Län­dern des kal­ten Nor­den­s“.[76] In der Rhein­ro­man­tik fin­gen Dich­ter je­doch an, schwär­mend vom Rhein zu be­rich­ten und lös­ten so das fran­ko­zen­tri­sche Bild Eu­ro­pas durch ein um den Rhein zen­trier­tes ab[77]. In der Fol­ge wur­de der Rhein ver­klärt und der Ant­ago­nis­mus zu Frank­reich war an die west­eu­ro­päi­sche Fo­kus­sie­rung des Rheins ge­bun­den[78]. Im­mer wie­der be­zo­gen sich die Nach­barn auf den Rhein als geo­po­li­ti­sche Mar­kie­rungs­li­nie. Durch die Ro­man­ti­sie­rung des My­thos „Va­ter Rhein“ wur­de die Op­po­si­ti­on ge­gen Na­po­le­on in­ten­si­viert[79]. Als Start­punkt der ro­man­ti­schen Ver­klä­rung des Rheins kön­nen die Be­rich­te Fried­rich Schle­gels (1772-1829) und die Rhein­rei­se von Achim von Ar­nim (1781-1831) un­d Cle­mens Bren­ta­no 1802 be­trach­tet wer­den[80]. In die­sen wird der Rhein zu ei­nem my­thi­schen We­sen sti­li­siert und die Per­so­ni­fi­zie­rung des Flus­ses als „Va­ter Rhein“ wur­de zum In­be­griff der Rhein­ro­man­tik[81]. Be­son­ders die Ur­fas­sung der Lo­re­ley von Bren­ta­no be­grün­de­te ei­nen Rhein­my­thos, der 1823 durch Hei­nes In­ter­pre­ta­ti­on Be­rühmt­heit er­lang­te und bis heu­te nach­wirkt[82]. Schle­gel war 1802 ei­ner der ers­ten, der den Rhein mit den Au­gen ei­nes Ro­man­ti­kers sah und ihn durch die My­thi­sie­rung der Bur­gen zu­gleich na­tio­na­li­sier­te[83]: „so ist er [der Rhein] das nur zu treue Bild un­sers Va­ter­lan­des; uns­rer Ge­schich­te“.[84] Durch die Li­te­ra­tur der Rhein­ro­man­tik wur­de er als sa­gen­um­wo­be­ner und ge­schichts­träch­ti­ger Strom neu ent­deckt, in ein mit­tel­al­ter­li­ches Am­bi­en­te ein­ge­bet­tet und so zum Sinn­bild des Ro­man­ti­schen[85]. In Deutsch­land wur­de der Rhein da­hin­ge­hend um­ge­deu­tet, dass er die Be­sin­nung auf ein ge­mein­sa­mes Er­be zu­ließ und den My­thos ei­nes schöp­fe­ri­schen Deutsch­tums un­ter­stütz­te[86] . So woll­ten die Rhein­ro­man­ti­ker den Rhein als ur­deut­schen Strom eta­blie­ren und bau­ten da­bei auf der The­se des Deut­schen Stroms von Arndt auf[87].

Die Rhein­my­then er­wei­sen sich als ei­ne Kol­lek­ti­on poe­ti­scher Me­ta­phern, die al­te Le­gen­den und Mär­chen, wie die Ni­be­lun­gen­sa­ge, neu ent­deck­ten. Es han­delt sich da­bei um Er­zäh­lun­gen mit christ­li­chen, an­ti­ken und nor­disch-ger­ma­ni­schen Mo­ti­ven, die am Rhein lo­ka­li­siert wa­ren, selbst wenn sie es ur­sprüng­lich nicht ta­ten. Bei­spiels­wei­se die Ni­be­lun­gen­sa­gen, an de­nen sich Rhein­ro­man­ti­ker be­dien­ten, wur­den zu ei­nem am Rhein to­po­gra­phisch fi­xier­ten My­thos, der das Spek­trum na­tio­na­lis­ti­scher Ge­füh­le be­dien­te[88]. Die Ro­man­tik ent­warf ei­ne Deu­tung des Rheins, die der sinn­li­chen Wahr­neh­mung ent­spre­chen soll­te[89]. Wenn­gleich die Be­frei­ung und Ro­man­ti­sie­rung des Rheins pa­trio­ti­sche Ge­füh­le weck­ten, gin­gen die­se bald wie­der un­ter und wur­den durch die Po­li­ti­sie­rung der Rhein­li­te­ra­tur zu ei­ner Volks­be­we­gung[90].

Fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler und In­tel­lek­tu­el­le ent­deck­ten den Rhein erst in den 1830er und 1840er Jah­ren als In­be­griff der ro­man­ti­schen Land­schaft. Sie wa­ren be­geis­tert von dem Zu­sam­men­spiel der Na­tur und der rei­chen Kul­tur- und Ge­schichts­land­schaft mit ih­ren Bau­denk­mä­lern und Burg­rui­nen, die ih­nen das Mit­tel­al­ter vor Au­gen führ­ten[91].

Al­le re­gime­kri­ti­schen Au­to­rin­nen und Au­to­ren wie Ma­da­me de Staël (1766-1817), die sich früh­ro­man­ti­schen The­men wid­me­ten, wa­ren um 1800 sehr an der deut­schen Li­te­ra­tur in­ter­es­siert. Je­de Be­schäf­ti­gung mit der deut­schen Li­te­ra­tur kön­ne den Fran­zo­sen wich­ti­ge An­re­gun­gen ge­ben. Für Frank­reich wur­de der Rhein als ih­re „na­tür­li­che Gren­ze“ nach We­hin­ger zum „Sym­bol für die men­ta­le, kul­tu­rel­le, emo­tio­na­le Dif­fe­renz, die kom­plex und zwei­deu­tig ist und der­ge­stalt auch zu ei­ner Be­dro­hung wer­den kann, die Ver­lust­ängs­te ver­ur­sach­t“.[92] 

Die Ori­ent­kri­se im Jahr 1840 ge­nüg­te, um na­tio­na­le Lei­den­schaf­ten zu ent­zün­den und den Rhein zum Sym­bol der na­tio­na­len Aus­ein­an­der­set­zung zu ma­chen[93]. Frank­reich wur­de bei Ver­hand­lun­gen der Qua­dru­pel­al­li­anz aus­ge­schlos­sen und der Pre­mier­mi­nis­ter Alp­hon­se Thiers (1797-1877) for­der­te ei­nen In­ter­es­sens­aus­gleich durch Re­ak­ti­vie­rung der vor­he­ri­gen Rhein­plä­ne[94]. Der Rhein wur­de so über Nacht zur bren­nen­den Fra­ge Eu­ro­pas und Stim­men wur­den laut, die ei­nen Krieg for­der­ten[95]. Auch wenn die­ser ver­hin­dert wer­den konn­te, wur­de der po­li­ti­sche Schlag­ab­tausch von Schrift­stel­lern bei­der Sei­ten auf­ge­nom­men. Die­se ver­lie­hen der „Schlacht der Dich­ter“ ei­ne emo­tio­na­le Qua­li­tät[96].

Rheinlandschaft, Öl auf Papier von Christian Georg Schütz (1718-1791), undatiert,. (public domain)

 

Frank­reichs Rhein­an­sprü­che wur­den in der Fol­ge von dem Bon­ner Ni­ko­laus Be­cker (1809-1845) in sei­nem Lied „Der deut­sche Rhein“, wel­ches an den Schrift­stel­ler Alp­hon­se de La­mar­ti­ne (1790-1869) und die Fran­zo­sen im All­ge­mei­nen ge­rich­tet war, zu­rück­ge­wie­sen[97]. Wäh­rend der Rhein­kri­se stärk­te es die Po­pu­la­ri­tät des Rheins, wur­de po­li­tisch in­stru­men­ta­li­siert und gilt als Start­punkt der Schlacht der Dich­ter[98]. Es er­schien am 18.9.1840 in der „Trie­ri­schen Zei­tun­g“ und wur­de mehr­fach ver­tont[99]. Die „Leip­zi­ger Zei­tun­g“ for­der­te so­gar, es als Na­tio­nal­hym­ne ein­zu­set­zen.[100] Be­reits der ers­te Vers „Sie sol­len ihn nicht ha­ben, den frei­en deut­schen Rhein“, der durch Wie­der­ho­lung dem Lied ei­ne zum Kampf­lied pas­sen­de Kon­ti­nui­tät ver­leiht, rich­tet sich, aus dem Ent­ste­hungs­zu­sam­men­hang er­sicht­lich, an die Fran­zo­sen[101]. Be­ckers Ge­dicht kann als „In­be­griff kon­tem­po­rä­rer deut­scher chau­vi­nis­ti­scher Ge­sin­nung und Mus­ter­bei­spiel selbst­herr­li­cher Ab­schot­tung zwecks Kon­sti­tu­ie­rung ei­nes na­tio­na­len Selbst­bil­des in der Op­po­si­ti­on zu Frank­reich“[102] ge­se­hen wer­den. Am En­de ap­pel­liert Be­cker an die po­li­ti­sche Ver­pflich­tung, im to­des­mu­ti­gen He­ro­is­mus den Rhein zu ver­tei­di­gen[103]. Es ist ein Bei­spiel für die Kraft der My­thi­sie­rung, die auch oh­ne Re­fle­xi­on zu ver­lan­gen, Emo­tio­nen aus­zu­lö­sen ver­mag. Der Ak­zent liegt auf der Frei­heit des Stroms, die auf die Be­frei­ung des Rhein­lands zu­rück­geht[104]. Auch wenn Be­ckers Lied nicht im­mer ernst ge­nom­men wur­de, be­sitzt es ei­ne Über­lei­tungs­funk­ti­on durch die Ver­bin­dung ro­man­ti­scher Bild­haf­tig­keit und ak­tua­li­täts­be­zo­ge­ner Dich­tung und lös­te da­durch die neue, po­li­ti­sche Rhein­dich­tung aus[105]. In Frank­reich wur­de das Lied als Pro­vo­ka­ti­on ver­stan­den. La­mar­ti­ne je­doch war der Auf­fas­sung, die Schrift­stel­ler bei­der Sei­ten sol­len sich über na­tio­na­le Vor­ur­tei­le hin­weg­set­zen, zur Ver­söh­nung der Völ­ker bei­tra­gen und das po­li­ti­sche Pro­blem nicht zu ei­nem li­te­ra­ri­schen Klein­krieg aus­ar­ten las­sen[106].

Als Re­ak­ti­on auf Be­ckers Ge­dicht ver­öf­fent­lich­te er die „Mar­seil­lai­se de la Pai­x“, in der der Rhein, als völ­ker­ver­bin­den­der Strom und Sinn­bild ei­nes dau­er­haf­ten Frie­dens, im Mit­tel­punkt steht[107]. Da die fran­zö­si­sche Ge­sell­schaft mit dem sanf­ten Ton La­mar­ti­nes un­zu­frie­den war, schrieb Al­fred de Mus­set (1810-1857) ei­ne deut­lich ag­gres­si­ve­re Ant­wort mit dem Na­men: „Le Rhin al­le­mand. Ré­pon­se à la chan­son de Be­cker“[108]. Er rief die Deut­schen in der ers­ten Stro­phe da­zu auf, sich zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass der Rhein schon ein­mal fran­zö­sisch war[109]. Krie­ge­ri­sche Hel­den, fran­zö­si­scher Na­tio­nal­stolz und tri­um­pha­le Ge­schichts­bil­der kenn­zeich­nen Mus­sets poe­tisch-ag­gres­si­ves Ge­dicht. Die letz­ten bei­den Stro­phen ge­ste­hen den Deut­schen den Rhein zu, for­dern je­doch zu Mä­ßi­gung und Zu­rück­nah­me ih­rer an­ti-fran­zö­si­schen Prah­le­rei, da­mit der Rhein fried­lich flie­ßen kann[110]. Zu­dem rät er den Deut­schen, sich trotz ih­rer Schwär­me­rei für den Rhein, nicht im pa­the­ti­schen Pa­trio­tis­mus zu ver­lie­ren, da die Mög­lich­keit ei­ner er­neu­ten An­ne­xi­on der Rhein­ge­bie­te durch die Fran­zo­sen wei­ter­hin be­stün­de[111]. In Frank­reich wur­de er in der Fol­ge, trotz des ver­söhn­li­chen En­des sei­nes Lie­des, als Ver­tei­di­ger der fran­zö­si­schen Rech­te ge­fei­ert[112].

Im fünf­ten Ca­put sei­nes Ge­dicht­zy­klus „Deutsch­land. Ein Win­ter­mär­chen“ aus dem Jah­re 1844 lässt Hein­rich Hei­ne den „Va­ter Rhein“ zu Wort kom­men[113]. Die­ser be­klagt sich, dass ihm das „dum­me Lie­d“ von Ni­ko­laus Be­cker die ver­gan­ge­nen Jah­re er­schwert ha­be. Fol­gen­schwe­rer sei aber der po­li­ti­sche Scha­den, der ihm aus dem Lied er­wach­sen sei[114]. Jetzt groll­ten ihm näm­lich die Fran­zo­sen, die er ger­ne wie­der an sei­nen Ufern sä­he[115]. Zu­dem fin­det auch Mus­set, der als „keck und frech“ cha­rak­te­ri­siert wird, in Hei­nes Ge­dicht Er­wäh­nung[116]. Das En­de des Ge­dichts ist ge­kenn­zeich­net durch ei­nen po­si­ti­ven Aus­blick auf die Zu­kunft des „Va­ter Rhein“[117]. Die Wer­ke Hei­nes ziel­ten ge­gen die na­tio­nal­re­stau­ra­ti­ven Ten­den­zen und die Eng­stir­nig­keit im zeit­ge­nös­si­schen Deutsch­land, den Fran­zo­sen­hass so­wie die Ver­klä­rung des Mit­tel­al­ters in der Ro­man­tik[118]. Be­ckers Rhein­lied galt Hei­ne als In­be­griff der po­li­ti­schen Dich­tung der 1840er Jah­re, die sich oft durch hoh­les Pa­thos, ge­paart mit va­ter­län­di­scher Ge­sin­nung aus­zeich­ne­te[119]. Sein Ge­dicht ist ein Plä­doy­er für Auf­klä­rung und Pres­se­frei­heit, ei­ne Kri­tik an der ro­man­ti­schen Mit­tel­al­ter­v­er­klä­rung und am Fran­zo­sen­hass. In der Fol­ge wur­de er als „Va­ter­lands­ver­rä­ter“ und „Freund der Fran­zo­sen“ ins Exil nach Frank­reich ge­schickt, da er den Rhein nicht als deut­schen Strom be­ju­bel­te[120].

Vic­tor Hu­gos (1802-1885) Rei­se­be­richt „Le Rhin“ von 1842 ar­gu­men­tiert noch­mals für die fran­zö­si­sche Sicht­wei­se, in­dem er be­merkt, dass „der Rhein sehr viel fran­zö­si­scher ist, als die Deut­schen glau­ben“[121]. Zwar sei das rech­te Rhein­ufer von der deut­schen Ge­schich­te ge­prägt, das Lin­ke hin­ge­gen von der fran­zö­si­schen[122]. Er hoff­te den­noch auf ei­nen Aus­gleich der zwei Na­tio­nen, in­dem der Rhein Frank­reich und Deutsch­land als na­tür­li­che Part­ner ver­bin­det[123]. Un­ter an­de­rem ge­hör­ten auch das „Lied der Deut­schen“ von Hoff­mann von Fal­lers­le­ben (198-1874), „Die Wacht am Rhein“ von Max Schne­cken­bur­ger (1819-1849) und Ernst Mo­ritz Arndts „Lied vom Rhein an Ni­k­las Be­cker“ zu den li­te­ra­ri­schen Re­ak­tio­nen in den 1840ern Jah­ren[124].

9. Schlussbetrachtung

Zu­sam­men­fas­send muss fest­ge­stellt wer­den, dass zwi­schen den Schrift­stel­lern der zwei Na­tio­nen ein ge­mä­ßig­tes Kli­ma herrsch­te, das we­nig mit der ag­gres­si­ven Hal­tung von 1870/1871 ge­mein hat[125]. Tüm­mers re­sü­miert die neu­ge­won­ne­ne Be­deu­tung des Rheins mit den fol­gen­den Wor­ten: „Die kri­ti­schen Ta­ge des Jah­res 1840 be­fes­ti­gen die Po­pu­la­ri­tät des Rheins im deut­schen Volk. Kein an­de­rer deut­scher Strom kam ihm fort­an in der Schät­zung und Lie­be al­ler Volks­krei­se gleich“.[126] Trotz der Un­ter­schie­de wur­de das Rhein­land letzt­lich doch deutsch und so­gar preu­ßisch. „Preu­ßen hat­te das Rhein­land in die La­ge ver­setzt, sei­ne po­li­ti­sche Iden­ti­tät zu fin­den, ein Staats­be­wusst­sein zu ent­wi­ckeln und pa­trio­tisch zu emp­fin­den“.[127] 

En­de der 1840er Jah­re bot der Rhein kaum mehr An­lass für va­ter­län­di­sche Be­sin­nung[128]. Es folg­te ei­ne Ära po­li­ti­scher Ent­halt­sam­keit, bis die Ge­mü­ter 1870/1871 er­neut auf­ge­heizt wur­den[129]. Die po­li­ti­sche Rhein­dich­tung, die den Fluss zum deut­schen Na­tio­nal­sym­bol sti­li­sier­te und zum In­be­griff der Frei­heit ver­klär­te, steht in ei­ner Tra­di­ti­on, die bis weit vor Be­cker zu­rück­reicht, denn be­reits 1814 hat­te Ernst Mo­ritz Arndt den Rhein als frei­en deut­schen Strom be­sun­gen[130].

1870/1871 ent­lud sich auf bei­den Sei­ten ein vor­her un­be­kann­ter Ver­nich­tungs­wil­le und der Rhein war nicht län­ger Ziel ro­man­ti­scher Sehn­sucht[131]. Nach 1871 war der Rhein end­gül­tig zum ge­samt­deut­schen Na­tio­nal­sym­bol ge­wor­den[132]. „Die Wacht am Rhein“ von Max Schne­cken­bur­ger ist ein Bei­spiel für die Ver­än­de­rung der po­li­ti­schen Stim­mung von 1840 bis 1870[133]. Das Lied, wel­ches zwar be­reits 1841 er­schien, je­doch erst im Zu­ge des Deutsch-Fran­zö­si­schen Krie­ges po­pu­lär wur­de, klingt ag­gres­si­ver und we­ni­ger poe­tisch als noch die re­spekt­vol­len Tö­ne Be­ckers[134]. Be­reits zu Zei­ten Lud­wigs XIV. be­schreibt das Mo­tiv der Wacht am Rhein, die Funk­ti­on des Rheins und der Rhein­län­der, als Ver­tei­di­ger ge­gen die mög­li­che In­va­si­on der Fran­zo­sen be­reit­zu­ste­hen[135]. Das Lied han­delt nicht von der Wie­der­her­stel­lung der Frei­heit, son­dern vom pa­the­ti­schen Be­griff des Va­ter­lan­des, der in der kol­lek­ti­ven Men­ta­li­tät des Ers­ten und Zwei­ten Welt­krie­ges auf­ge­nom­men und als rhei­ni­sche Tra­di­ti­on na­tio­na­lis­ti­schen Den­kens fort­ge­setzt wur­de[136]. Dies ist an dem krie­ge­ri­schen Auf­schrei „zum Rhein, zum Rhein, zum deut­schen Rhein“ er­kenn­bar[137]. Die De­mü­ti­gung, die Frank­reich 1870/1871 er­fah­ren muss­te, wur­de erst durch den Ver­sailler Frie­dens­ver­tra­ges und die kurz­wei­li­ge Be­set­zung des lin­ken Rhein­ufers über­wun­den[138]. Cepl-Kauf­mann fasst die neue Auf­ga­be des Rheins mit den Wor­ten: „Er wirk­te für Deutsch­land in­te­grie­rend, in­dem er den Ein­zel­nen [...] in das gro­ße Gan­ze hin­auf­ho­b“ zu­sam­men[139].

Es gibt nicht den ei­nen My­thos vom Rhein. Viel­mehr muss von meh­re­ren My­tho­lo­gi­en ge­spro­chen wer­den, die sich um den Fluss ran­ken. Die­se ha­ben ih­ren Ur­sprung in der Rhein­ro­man­tik, in der al­te Sa­gen und Mär­chen, wie das Ni­be­lun­gen­lied, neu in­ter­pre­tiert wur­den und die den Rhein in ihr Zen­trum rück­ten. Wie ge­zeigt wur­de ver­band der Rhein schon seit der An­ti­ke die Ge­schich­te mit My­then, die den Strom auf­nah­men und ihm ei­ne neue Qua­li­tät ver­lie­hen.

Der Rhein war für Frank­reich ei­ne „na­tür­li­che Gren­ze“. Es sei al­lein die Na­tur, die Frank­reich sei­ne Gren­zen zu­schrei­be. Die For­de­rung der Rhein­gren­ze wur­de zum In­halt des na­tio­na­len My­thos und zähl­te zu den un­ver­äu­ßer­li­chen Be­stand­tei­len der Er­run­gen­schaf­ten der Re­vo­lu­ti­on. Der Rhein wur­de so­mit zu ei­nem Mit­tel und My­thos der na­tio­nal­fran­zö­si­schen Po­li­tik und stand dem Kon­zept des Rheins als „deut­schen Strom“ kon­tras­tiv ent­ge­gen[140]. Ka­ren Den­ni stellt her­aus, dass der My­thos der na­tür­li­chen Gren­ze mit dem Ant­ago­nis­mus der Völ­ker ei­ne Ge­fahr dar­zu­stel­len be­ginnt, da die­se sich auf ih­re Na­tio­na­li­tät und das Kon­zept na­tio­na­ler Gren­zen be­ru­fen. Zu­dem kri­ti­siert sie das Kon­zept der „na­tür­li­chen Gren­ze“, da Gren­zen meist Er­geb­nis jahr­hun­der­te­lan­ger Ent­wick­lun­gen sei­en und nicht na­tur­ge­ge­ben[141]. Das Kon­zept der „na­tür­li­chen Gren­ze“ war so­mit „Be­stand­teil ei­nes weit zu­rück­rei­chen­den po­li­ti­schen Be­wusst­seins, wel­ches sich ge­le­gent­lich als po­li­ti­sche For­de­rung ma­ni­fes­tier­te.“[142] 

Das Kon­zept des Rheins als Deutsch­lands Strom und nicht Deutsch­lands Gren­ze von Ernst Mo­ritz Arndt be­schreibt zu­gleich den Ur­sprung der Mys­ti­fi­zie­rung. Im Zu­ge der Be­set­zung des Rhein­lands am En­de des 18. Jahr­hun­derts ent­stand ein neu­es Na­tio­nal­be­wusst­sein, das den Rhein in­stru­men­ta­li­sier­te, mit My­then auf­lud und als po­li­ti­sches Sym­bol der stra­te­gi­schen Gren­ze ver­stand. Die Ge­schich­te des Rheins ist durch sei­ne tren­nen­de und ver­bin­den­de Funk­ti­on als am­bi­va­lent zu be­zeich­nen; ihn ei­nen ur­deut­schen Strom zu nen­nen, wird sei­ner Rol­le als eu­ro­päi­scher Fluss nicht ge­recht. Ob­wohl sei­ne ro­man­ti­sche Ver­klä­rung längst Ge­schich­te ist, be­sitzt der Rhein auch heu­te noch et­was My­thi­sches und in­spi­riert, da­mals wie heu­te, Künst­ler und Schrift­stel­ler.

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Nikolaus Becker, Brustbild, Litographie von August Kneisel (1782-1855). (Universitätsbibliothek Frankfurt am Main)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Meier, Julia, Schönbauer, Daniel, Deutsche, Franzosen und der Rhein, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/deutsche-franzosen-und-der-rhein/DE-2086/lido/5e29a5a27b0150.56971900 (abgerufen am 07.10.2024)