Zu den Kapiteln
Walter Markov war kein geborener Rheinländer, doch die zehn entbehrungsreichsten Jahre seines Lebens verbrachte er hier, im Siegburger Gefängnis. Zuvor zählte er zu den wenigen, die als junge Wissenschaftler aktiven Widerstand gegen das NS-Regime an der Universität Bonn geleistet hatten. Nach 1945 wurde er zu einem der wichtigsten Historiker der DDR.
Walter Markov, geboren am 5.10.1909 in Graz, war ein Kind der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Väterlicherseits entstammte er einer slowenischen Bauernfamilie mit dem ursprünglichen Namen Mulec, welche seit dem 18. Jahrhundert in der Untersteiermark nachweisbar ist. Erst der Vater Franz Mulec (1881-1974) hatte als kaufmännischer Angestellter des Deutschen Kali-Synidkats den Schritt in die Stadt Graz gewagt. Markovs Mutter, Minna Auguste Isabella Mulec geborene Schellbach (geboren 1889), gebürtige Wienerin und Tochter des mit Druckmaschinen und Farben handelnden Geschäftsmannes Carl Beuermann (geboren 1863) und dessen Frau (geboren 1866), fühlte sich ein Leben lang aufgrund ihrer Abstammung als Reichsdeutsche. Schon im Jahr nach Walters Geburt zog die Familie für das Syndikat nach Laibach, kam aber während des Ersten Weltkriegs 1915 zurück nach Graz. Hier besuchte Walter als Kind protestantischer Eltern die schulgeldpflichtige „Evangelische Privatschule". Er gewöhnte sich schnell daran, zwischen den Kulturen zu pendeln. Denn schon 1919 zog man wiederum nach Laibach, was für die Familie nicht die letzte Station im entstehenden Jugoslawien sein sollte. Walter Markov legte 1927 im kroatischen Rijeka sein Abitur ab.
Zur multikulturellen Erfahrung kam als Initiationserlebnis für historisches und politisches Interesse ein italienischer Spielfilm über Hannibal, den Markov während des Kriegs in Graz gesehen hatte. Im Frühjahr 1925 engagierte er sich erstmals politisch, als er im Laibacher Bekanntenkreis für die liberalen Sozialdemokraten (SDS) warb.
Sein Studium begann Markov 1927 in Leipzig, wo ihn der evangelische Gustav-Adolf-Verein materiell unterstützte. Deshalb schrieb sich Markov nicht nur in Geschichte, sondern zusätzlich auch in Theologie ein – wobei er dafür sorgte, dass seine Geldgeber umgekehrte Prioritäten vermuteten. In seiner Autobiographie hat Markov die Studentenzeit mit den zeittypischen Nöten und Freuden ausgiebig geschildert. Auf einer Radtour zu Pfingsten 1928 stieß der kritische Markov durch das Binger Loch erstmals ins Rheinland vor und erlebte nicht nur Erfreuliches. Er klagte über den – auch wegen der Olympischen Spiele in Amsterdam – außergewöhnlich starken Verkehr auf den Rheinuferstraßen; vor Bonn kollidierte er mit einem Motorrad; in der Stadt selbst mundete ihm der saure Wein nicht; in Köln war der Dom zu groß für eine Photographie; Düsseldorf erschien ihm sehenswert, Duisburg und das Ruhrgebiet hingegen erklärte er zum hässlichsten Stück Deutschlands.
Als ihm Leipzig als Universitätsstadt zu unattraktiv wurde, hieß es für Markov: „Also nichts wie auf zum Rhein, zum freien deutschen Rhein!" Kaum ein Jahr nach seiner Radtour kam Markov im März 1929 mit dem Zug nach Köln. Im Gustav-Adolf-Verein hatte man Markovs wahre Interessen erkannt und ihm – neben Bonn – Köln als Universitätsstadt empfohlen, obwohl dort gar keine evangelisch-theologische Fakultät existierte. Als Wohnort war ihm ein Pfarrhaushalt in Roggendorf bei Mechernich in der Eifel zugewiesen worden. Hier sollte er neben seinem Studium als Hauslehrer tätig sein. Markov tat wie ihm geheißen, hatte keine Schwierigkeiten beim Überschreiten der Grenze von der entmilitarisierten A-Zone mit Köln zur noch französisch besetzten Zone B, in der Roggendorf lag, wohl aber mit der Entfernung zwischen Universität und Pfarrhaus von über 50 Kilometern. An ein reguläres Studium war nicht zu denken. Markov hörte unregelmäßig Vorlesungen. Eindruck hinterließen bei ihm der sozialdemokratische Wirtschaftshistoriker Bruno Kuske, der eine positive Bewertung der sowjetischen Wirtschaftsleistung nicht scheute, und Johannes Ziekursch (1876-1945), der zur Freude Markovs den Preußenkönig Friedrich II. (Regierungszeit 1740-1786) durchaus kritisch bewertete.
Der Aufenthalt wurde für den reiselustigen Markov zum Ausgangspunkt vieler Fahrten ins Umland bis nach Belgien. Ende 1930 starb der Roggendorfer Pfarrer und die Witwe löste den Haushalt in der Eifel auf. Markov kehrte zunächst nach Leipzig zurück, stieg dann aber ins Wintersemester an der Berliner Universität ein. Hier beobachtete der immer mehr mit dem Kommunismus sympathisierende Markov den Untergang der Weimarer Republik, unterbrochen von vielen Reisen, unter anderem in seine Heimat.
Zum Sommersemester 1933 wechselte Markov nach Hamburg in der Absicht, bei dem Osteuropahistoriker Richard Salomon (1884-1966) promoviert zu werden. Dessen Verfolgung als Jude und seine anschließende Emigration machten ein erneutes Umdenken nötig. Solomon empfahl Markov Bonn mit seinem „in allen Farben" schillernden Historiker Fritz Kern, der längst die Grenzen der Mediävistik überschritten hatte (Markov).
Mit Kerns schriftlicher Zusage, in seinem Hauptseminar vortragen zu dürfen, fuhr Markov Ende Oktober 1933 mit dem Fahrrad und – ab Hagen-Haspe – mit der Eisenbahn nach Bonn. Die ersten Nächte verbrachte er in der Jugendherberge an der Poppelsdorfer Allee. Der angehende Doktorand war sich sicher, dass Kern als „Direktor des einzigen deutschen Instituts für Universalgeschichte" sein Mann sei. Im Wintersemester 1933/1934 nahm er am Hauptseminar teil und fiel durch sein „großes Mundwerk" auf (Markov). Die Assistenten, der regimekritische Hans Hallmann (1897-1985) und der aus der NSDAP ausgeschlossene Nationalsozialist Ernst Anrich (1906-2001), mochten staunen, dem impulsiven Kern aber gefiel der Neuzugang aus Hamburg.
Am 3.1.1934 war Markov von Kern zum Abendessen eingeladen. Bei einem Glas Wein empfahl der renommierte Historiker seinem neuen Schützling, sofort zu promovieren, zum Beispiel über den langjährigen serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pasić (1845-1926). Vier Wochen später, am 1. Februar, reichte Markov die Dissertation „Serbien zwischen Österreich und Russland, 1897-1908" ein; am 28. Februar war er summa cum laude promoviert; am 28. Juli hielt er die Doktorurkunde in Händen. Fritz Kern hatte ganz offensichtlich nicht nur das wissenschaftliche, sondern auch das politische Potential seines Ausnahmeschülers erkannt. „Man weiß nie, was dazwischenkommt, und promoviert ist promoviert", soll Kern gesagt haben (Markov). Markovs neuer Freund Hannes Schmidt (1909-1998) sah eine gewisse Kongenialität: „Nur Markov kann eine solche Dissertation schreiben – und nur Kern kann sie abnehmen!" (Markov) Ein Jahr später war die mit 90 Seiten einschließlich Karten und anderen Beilagen auch für die damalige Zeit recht schmale Arbeit in einer von Doktorvater Kern selbst herausgegebenen Reihe publiziert.
Tatsächlich stand neben einer raschen Promotion politische Agitation auf Markovs Agenda. Hamburg hatte er mit dem Bedauern verlassen, „die Partei nicht gefunden" zu haben (Markov). Jetzt war er mit dem ein Semester vor ihm von Hamburg nach Bonn gewechselten Hannes Schmidt befreundet, der an der Alster zwar kommunistische Kontakte gepflegt, in Bonn aber gar nicht erst geknüpft hatte. Beide wollten einen Neubeginn wagen. Schmidt und Markov lernten sich in Kerns Hauptseminar kennen. Für Schmidt war durch die tatsächlich als „Köder" gedachte Verwendung des Wortes „Produktionsverhältnisse" in Markovs Referat klar geworden, dass er es mit einem Gesinnungsgenossen zu tun hatte. Markov seinerseits fragte einen dritten Studierenden namens John, wer denn „der junge Mann sei, der aussähe wie Trotzki". John gab diese Äußerung prompt weiter, so dass sich Schmidt direkt an Markov wandte: „Wissen Sie nicht, daß Trotzki Jude ist?" Darauf soll Markov zur Zufriedenheit Schmidts geantwortet haben: „Doch natürlich, aber was das betrifft, mir sind die Juden sympathisch!" Schon bald versicherte Schmidt seinem neuen Freund „Mov": „Wenn Du was machst, ich mache mit!" (Markov).
Zu den beiden stießen noch drei weitere Studenten: An erster Stelle zu nennen ist Günter Meschke (geboren 1907). Den damaligen Mathematikstudenten hatte Markov im Studentenwohnheim Berlin-Weißensee kennen gelernt. Meschke kam im April 1934 nach Bonn und hoffte nun gleichfalls auf eine Promotion in Geschichte. Der vierte im Bunde war Anthony Toynbee (1910-1975), der älteste Sohn des Geschichtsphilosophen Arnold J. Toynbee (1889-1975). Markov beschrieb ihn später als hoch begabten, gut aussehenden, aber schwermütigen Engländer, der den Kommunismus für eine „große Idee" hielt; in seiner Heimat war sie nach Toynbees Auffassung nicht durchsetzbar, im Kampf gegen Hitler aber „die fähigste Kraft" (Markov). Einer, der nach Markov „immer eines Antriebs bedurfte" war Hans Schadow (geboren 1908), der bei Karl-Ludwig Schmidt (1891-1956), Karl Barth (1886-968) und Fritz Lieb (1892-1970) evangelische Theologie studierte und damit in die Nähe der „religiösen Sozialisten" geriet. Schadow, fünftes Kind einer im kaschubischen Niedamowo ansässigen Familie, stand auch deshalb in Opposition zum NS-Regime, weil er den verlangten „Ariernachweis" in der Großelterngeneration nicht beibringen konnte.
Markov, Schmidt, Meschke, Toynbee und Schadow gründeten Anfang Mai 1934 in einem zum Keltologischen Institut der Universität gehörenden Turmzimmer die „Gruppe Universität der KPD". Sie verpflichteten sich zu einem Monatsbeitrag von 2 Reichsmark, um eine „Kriegskasse" aufzubauen. Es gelang Markov, die Fünfer-Treffen im Turmzimmer als Russisch-Kurs zu deklarieren und er erhielt dafür im Sommersemester 1934 einmalig 500 Reichsmark. An Kontakten nach außen mangelte es zunächst, auch zu den verfolgten Bonner Kommunisten des Unterbezirks und den Studenten der verbotenen Kommunistischen Studenten-Fraktion (Kostufra). So kam man unter dem Einfluss Toynbees auf die Idee, zunächst englischsprachige Touristen über den Charakter des NS-Regimes aufklären zu wollen. Entsprechende Flugblätter wurden verfasst. Eine Grundlage für diese Propagandaarbeit bot das Material, das der nach wie vor reiselustige Markov unter anderem am Rande des WM-Qualifikationsspiels der deutschen Fußballnationalmannschaft in Luxemburg am 11.3.1934 organisierte. Hatte er diese Fahrt mit dem Bus unternommen, fuhr er Pfingsten 1934 mit Meschke, Toynbee und Schadow per Fahrrad und Motorrad ins Saargebiet. In Saarbrücken sprach man bei der KP-Leitung vor, erhielt aber dort anders als erhofft keine Kontaktadressen. Markov richtete zudem für alle Fälle ein Konto bei einer französischen Bank ein.
In Bonn plante die Gruppe weitere Aktionen und erwog im Vorfeld eines Besuchs von Hermann Göring (1893–1946) ein Attentat vom Museum Alexander König aus und konnte weitere Mitstreiter gewinnen. Endlich gelang auch ein Kontakt zur KPD. Ihn stellte Hannes Schmidt her, der mit einer „Halbjüdin" verlobt war und als Schlagzeuger und Ringelnatz-Fan zu einer Art linken „Bohème" zählte. Er konnte über den Apotheker Charlie Fromme (1908-1958) und den Buchhändler Karl Limbach (1911-1972) im Oktober 1934 die lange erhoffte Verbindung zur Unterbezirksleitung der KPD herstellen. Zu diesem Zeitpunkt war Markov bereits den NS-Behörden aufgefallen. Auf Markovs Doktorfeier Ende Juli hatte man ein Referat des Spitzenkommunisten Wilhelm Pieck (1876-1960) diskutiert, was eine der Anwesenden nicht für sich behalten wollte. Einstweilen aber blieb die Gruppe unbehelligt, da man sie offenbar nicht allzu ernst nahm.
Im Wintersemester 1934 aber wurde der Kontakt zur Unterbezirksleitung der KPD enger und Markov zeichnete mit „CH" (Carl und Hugo waren weitere Vornamen Walter Markovs) seine Artikel in der Widerstandszeitung „Sozialistische Republik", für die er selbst den Titel vorgeschlagen hatte und die er zeitweise ganz allein füllte. Markovs Posteingang fiel auf und wurde so offen kontrolliert, dass er es später für möglich hielt, die zunächst noch wenig nationalsozialistische, eher katholisch geprägte Bonner Polizei habe ihn warnen wollen.
Zum Verhängnis wurde Markov, dass er im Dezember 1934 in dem ihm von früher bekannten Eifelort Roggendorf Kontakt mit allerdings untereinander verfeindeten Kommunisten aufnahm. Einige von ihnen dienten als Kuriere für illegale Post. Am 8.2.1935 kam es hier zum Verrat. Noch am Abend wurde Schadow festgenommen, am Tag darauf Markov im Direktorenzimmer des 1939 emigrierten Orientalisten Paul Kahle. Zuvor hatte Markov noch Prüfungen abgenommen. Er war nach einer Nacht in Köln bewusst nach Bonn zurückgekehrt, um nicht als Drückeberger zu gelten. In der Tat hätte Markov, der immer noch einen jugoslawischen Pass besaß, gute Fluchtchancen gehabt. So aber wurde er zunächst zur Polizeiwache im Rathaushof gebracht, dann in Gefängnisse in Bonn, Essen und Berlin. Dort verurteilte ihn am 4.5.1936 der Volksgerichtshof zu zwölf Jahren Zuchthaus, während Meschke mit einem halben Jahr und Schadow mit einem Jahr Gefängnis davonkamen. Anthonys berühmter Vater Arnold Toynbee, der nach Berlin zu Minister Hans Kerrl (1887-1941) gereist war, hatte das harte Urteil auch deshalb nicht verhindern können, weil Markov im Prozess an seiner Weltanschauung kompromisslos festhielt.
Bis 1945 und damit bis zu seinem 36. Lebensjahr saß Markov nun im Siegburger Gefängnis ein. Die Arbeit bezeichnete er später als „lästig", aber „nicht schwer" (Markov): Hanf zupfen, Stanniolpapier sortieren, mit einer Strickmaschine Militärsocken stricken, Basttaschen besticken. Er blieb konsequent, stand zu Stalin und lehnte Vergünstigungen wie einen Rasierapparat ab. Auch ärztliche und zahnärztliche Versorgung nahm er freiwillig nicht in Anspruch. Im Gefängnis begegnete er vielen anderen politischen Gefangenen, auch nichtkommunistischer Prägung. Hier lernte er nach dessen Verurteilung 1941 auch den im bündischen Widerstand tätigen Michael Jovy (1920-1984) kennen, der – ohne Markovs Wissen – aus dem Siegburger Gefängnis heraus die Kölner Edelweißpiraten beriet. Markov begegnete 1980 dem nun als Diplomat der Bundesrepublik Deutschland tätigen Jovy am Rande des Internationalen Historikerkongresses in Bukarest wieder.
1944 wurde er aus seiner zeitweise verwanzten Einzelzelle zunächst in eine Zweier-, dann in eine Dreierzelle verlegt. Interventionen der Mutter und auch Fritz Kerns brachten Erleichterungen, zuletzt 1944 die Versetzung in die Bücherei. Zuvor hatte Markov im Schneidersaal unter anderem lausbesetzte Soldatenkleidung geflickt, die Fleckfieber ins Gefängnis brachte. Mit einem Außenkommando rettete er Teile der Bibliothek Fritz Kerns aus der zerbombten Bonner Universität. Wenig später steckte Fritz Kern bei einem Besuch in Siegburg Markov 2.000 Mark zu, mit denen er sich auf dem Gefängnisschwarzmarkt zwei geladene Pistolen besorgte. Trotz vieler Rückschläge – die Fleckfieberepidemie unter den Gefangenen, die Verlegung von Mitverschworenen, die Erschießung von drei Luxemburger Mitgefangenen als Vergeltung für ein Attentat, die völlige Überbelegung des Gefängnisses unter anderem nach Aufgabe der Rheinbacher Anstalt – verfocht Markov die Idee eines Aufstands gegen die Gefängnisleitung. Tatsächlich gelang es ihm mit einigen Gefährten kurz vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in den Siegburger Norden, die Gefängnisleitung zu überwältigen. Die amerikanischen Besatzer übertrugen Markov und anderen politischen Gefangenen die Gefängnisleitung, da eine sofortige Freilassung wegen des noch immer grassierenden Fleckfiebers nicht sinnvoll erschien. Von der Mehrheit der Gefängnisinsassen wurde Markov aber bald entmachtet, da man den Kommunismus ablehnte.
Schließlich befiel auch Markov das Fleckfieber. Er kam in mehrere Krankenunterkünfte außerhalb Siegburgs, bevor er im Juni 1945 in Bonn an der Godesberger Straße eine Wohnung als Untermieter beziehen konnte. An der Universität fand er keine feste Anstellung. Rektor Heinrich Konen (1874-1948) verzichtete auf die Unterstützung des „Antifaschisten", der am Aufbau beziehungsweise Wiederaufbau von KPD, FDJ, AStA und Kulturbund arbeitete.
Markov stand vor der Frage, wo er künftig leben sollte. Nach Jugoslawien zog ihn ebenso wenig wie nach Graz, zumal er seiner Familie ihre wenig widerständige Haltung während des „Dritten Reichs" übel nahm. Mehrmals reiste er nach Berlin, so auch 1946 zu einer ersten Historikertagung im Hotel Adlon. Hier machte er durch eine Replik auf das Eröffnungsreferat des KPD-Funktionärs Anton Ackermann (1905-1973) auf sich aufmerksam und erhielt kurz darauf Rufe der Universitäten Greifswald und Leipzig. Markov entschied sich für Leipzig, dessen Rektor der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900-2002) war. Noch im selben Jahr zog er vom Rhein an die von ihm keineswegs geliebte Pleiße, wo er ab 1949 einen Lehrstuhl besetzte. Als marxistischer Historiker sah Markov für sich im Westen keine Chance. In Interviews erklärte er später, dass sein Schritt hätte anders ausfallen können, wenn er den Aufbruch an den Universitäten der Bundesrepublik in den sechziger Jahren vorausgeahnt hätte.
In Leipzig lernte er die aus Mönchengladbach stammende Studentin Irene Bönninger (geboren 1927) kennen. Aus der 1947 geschlossenen Ehe gingen bis 1957 fünf Kinder hervor, unter anderem Tochter Jelka (geboren 1948) und Sohn Maximilian (geboren 1957).
An seiner neuen Wirkungsstätte blieb Markov ein kritischer Geist. 1947/1948 beteiligte er sich an den Diskussionen prominenter Intellektueller in der „Gesellschaft Imshausen" über die Möglichkeiten einer Synthese von West und Ost. In Halle habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Grundzüge der Balkandiplomatie. Als unorthodoxer Denker und aufgrund seiner Herkunft des Titoismus beschuldigt, wurde er 1951 – anders als seine Ehefrau Irene – aus der SED ausgeschlossen, konnte seine akademische Karriere aber fortsetzen. Den Schwerpunkt seiner Forschungen verlagerte er vom Balkan nach Frankreich, wo ihn das Verhalten der Jakobiner und der SansculottenFranzösisch (ohne Kniehose), bezeichnet den proletarischen Revolutionär der Französischen Revolution. während der Revolution interessierte. Er knüpfte Verbindungen zu französischen Kollegen wie Albert Soboul (1914-1982) und wurde zu einem international bekannten Historiker der DDR, der reisen durfte und ein Ordinariat in Nsukka/Nigeria (1962/1963) sowie eine Dozentur in Santiago de Chile (1970/1971) übernehmen konnte.
Die Auslandsaufenthalte kamen seinen universalgeschichtlichen Interessen entgegen. Die Geschichte der Befreiungsbewegungen in der damals noch unbefangen so genannten „Dritten Welt" wurde nun ebenso zum Gegenstand seiner Publikationen wie die Weltgeschichte schlechthin. 1968 wurde Markov Direktor der eigens gegründeten Sektion für Afrika- und Nahostwissenschaften an der Universität Leipzig. Seit 1974 im Ruhestand lebend, beobachtete er die Entwicklung der DDR weiter aus einer keineswegs oppositionellen, marxistischen Perspektive. Zum 70. Geburtstag 1979 zeichnete ihn der SED-Staat mit dem „Stern der Völkerfreundschaft in Silber" aus, nachdem er 20 Jahre zuvor aus den Händen von Walter Ulbricht (1893-1973) bereits den Vaterländischen Verdienstorden in Silber erhalten hatte.
Zwei Herzinfarkte 1983/1984 dämpften Markovs Produktivität, der nun vermehrt an seinen Memoiren arbeitete und sich zu manchem Zeitzeugeninterview bereit fand. Nach der Wende 1989/1990 engagierte er sich für die PDS. Am 3.7.1993 starb Markov in Summt am See nördlich von Berlin.
Quellen
Markov, Walter, Wie viele Leben lebt der Mensch. Eine Autobiographie aus dem Nachlaß, o. O. [Leipzig] 2009 (Niederschrift aus der ersten Hälfte der achtziger Jahre; Publikation von der Witwe Irene Markov veranlasst).
Werke (Auswahl)
Grundzüge der Balkandiplomatie. Ein Beitrag zur Geschichte der Abhängigkeitsverhältnisse, Leipzig 1999 (Habilitation von 1947).
Serbien zwischen Österreich und Rußland 1897–1908, Stuttgart 1934 (Dissertation).
Zwiesprache mit dem Jahrhundert. Dokumentiert von Thomas Grimm, Neuauflage Köln 1990 (Gesprächsdokumentation aus DDR-Perspektive).
Literatur
Forsbach, Ralf, Walter Markov (1909-1993), NS-Widerstandskämpfer und Historiker, in: Rheinische Lebensbilder 19 (2013), S. 309-329.
Matzerath, Josef (Hg.), Bonn. 54 Kapitel Stadtgeschichte, Bonn 1989 (mit Beiträgen über und von Walter Markov).
Neuhaus, Manfred/Seidel, Helmut (Hg.), „Wenn jemand seinen Kopf bewußt hinhielt…" Beiträge zu Werk und Wirken von Walter Markov, 2. durchgesehene Auflage, Leipzig 1998 (unkritische Gedenkschrift zahlreicher Weggefährten und Kollegen).
Online
Heitkamp, Sven, Walter Markov. Ein Leipziger Historiker zwischen Parteilichkeit und Professionalität, in: die Hochschule 1/2002, S. 148-158 (Text als PDF-Datei auf der Website des Instituts für Hochschulforschung Wittenberg). [Online]
Prof. Dr. phil. habil., Dr. phil. h c. Walter Karl Hugo Markov(Professorenkatalog der Universität Leipzig). [Online]
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Forsbach, Ralf, Walter Markov, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/walter-markov/DE-2086/lido/57c948001986d3.25293569 (abgerufen am 07.10.2024)