Industrialisierung und Städtebildung an der Saar
Zu den Kapiteln
Schlagworte
Als im Saarland 1973 die kommunale Gebiets- und Verwaltungsreform durchgeführt wurde, gab es 16 Städte. Auf den ersten Blick scheint, wenn man die Namensliste durchgeht, das Stadtrecht in keinem einzigen Fall in der Hochphase der Industrialisierung verliehen worden zu sein. Die Hälfte erhielt die Verleihung erst nach dem Ersten Weltkrieg, allein sechs von ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei der anderen Hälfte ist nach den geschichtlichen Bestandteilen des Saarlandes zwischen drei bayerischen und fünf preußischen Städten zu unterscheiden, bis auf historisch begründete Ausnahmen handelte es sich beim Stande von 1914 um Kreisstädte. Den Kreisstädten verlieh die preußische Regierung auf der Grundlage der Rheinischen Städteordnung von 1856 das Stadtrecht. Auf den zweiten Blick ist dann aber doch eine auf die Hochindustrialisierung zurückgehende Stadtbildung zu identifizieren. Dazu muss man die geschichtlichen Bestandteile der heutigen Landeshauptstadt Saarbrücken unter die Lupe nehmen. Saarbrücken war 1914 ein gerade einmal fünf Jahre alter Bund von drei Städten, bestehend aus der ehemaligen Residenzstadt Saarbrücken links der Saar, der Schwesterstadt St. Johann rechts der Saar, beide hatten gleichzeitig im Spätmittelalter den städtischen Freiheitsbrief und 1859 die Rheinische Städteordnung erhalten, und aus Malstatt-Burbach, dem Parvenü, der Industriestadt par excellence, erst seit 1875 mit Stadtrechten ausgestattet.
Neben den saarländischen Städten und diese in der Einwohnerzahl zum Teil deutlich übertrumpfend, gab es sechs große Industriedörfer, die bis 1914 den Status von Landgemeinden nicht verlassen konnten oder vielmehr durften: Neunkirchen im Kreis Ottweiler, Stadtrechtsverleihung 1922, hatte 1914 34.539 Einwohner, fälschlicherweise schon mal als größtes preußisches Dorf bezeichnet, die Kreisstadt 6.922. Im Landkreis Saarbrücken besaßen fünf Landgemeinden mehr als 10.000 Einwohner: Dudweiler, das sich vor der Stadtwerdung 1962 mit dem Titel eines größten Dorfes in Europa schmückte, 21.928, Friedrichsthal 13.119, Püttlingen 16.757, Sulzbach 22.431, Völklingen 18.104. Diese Industriedörfer sollten alle noch zu Städten aufgewertet werden.
Die Städte beziehungsweise Industriedörfer bilden nach ihrer geographischen Lage die Schenkel eines rechteckigen Dreiecks mit Saarbrücken als Eckpunkt. Im Eckpunkt befand sich der Kopf des Reviers, das Management, hier residierten die Industriekapitäne. Weder in Saarbrücken noch in St. Johann gab es Gruben oder Hüttenwerke. An den Schenkeln des Dreiecks konzentrieren sich die Kohlevorkommen. In der Nähe der Gruben wurden die großen Eisenbahnlinien angelegt und an diesen wiederum entstanden die Industriedörfer. Der eine Schenkel wird von der Linie Saarbrücken – Trier dargestellt, der andere von der Linie Saarbrücken – Ludwigshafen. Nebenlinien ergänzten nach und nach dieses Grundschema. Malstatt-Burbach liegt am Schenkel Saarbrücken – Trier, der an der Saar entlang läuft. Doch die Saar war nicht der maßgebliche Entwicklungsfaktor, auch wenn an ihren Ufern neben Malstatt-Burbach noch die Industriedörfer beziehungsweise die späteren Hüttenstädte Völklingen und Dillingen liegen, sondern die neben dem Fluss verlaufende Eisenbahnlinie.
Nach diesen Vorbemerkungen lässt sich das Thema „Industrialisierung und Städtebildung an der Saar" auf den Stadtkomplex Groß-Saarbrücken fokussieren.
Im Jahre 1909 war ein Vereinigungsvertrag zwischen Saarbrücken, St. Johann und Malstatt-Burbach abgeschlossen worden, aus denen ein Stadtkreis Saarbrücken mit 105.089 Einwohnern gebildet wurde. Auf diesem Wege war die größte Stadt zwischen Rhein und französischer Grenze entstanden, und das verdankte sie dem Parvenü Malstatt-Burbach. Erst 1862 war aus den Einzelgemeinden Malstatt, Burbach und Rußhütte eine eigene, administrativ von Saarbrücken unabhängige Bürgermeisterei losgelöst worden. Diese abgesonderte Bürgermeisterei stellte im Jahre 1875 die Gebietsgrundlage für die neue Stadt Malstatt-Burbach, deren Einwohnerzahl bereits bei der Stadtrechtsverleihung die der altehrwürdigen Nachbarstädte Saarbrücken und St. Johann übertraf. Das Eigenleben der neuen Stadt währte knapp eine Generation, bis zur Vereinigung 1909, also 34 Jahre.
Eine vergleichende Betrachtung dieses Trios dürfte der interessanteste Aspekt des Themas sein, weil sich hier Parallelwelten ausbildeten, in denen die Industrialisierung jeweils andere Auswirkungen zeitigte. Vor der Einführung der Rheinischen Städteordnung im Jahre 1859, die in die beginnende Take-Off-Phase der Industrialisierung fiel, bietet sich folgendes Bild: Alt-Saarbrücken hatte 6.000 Einwohner, war eine Handels- und Verwaltungsstadt mit zentralen Funktionen für das Umland, die es als einstige Residenzstadt des Fürstentums Nassau-Saarbrücken und als Hauptort eines Arrondissements im Saardepartement in die preußische Zeit hinüberretten konnte. Das Siedlungsgebiet beschränkte sich auf den alten Stadtkern zwischen Schloss und Ludwigskirche. Die Schwesterstadt St. Johann mit ihren 5.000 Einwohnern war eine Ackerbürgerstadt, die an den Durchgangsstraßen bereits aus den alten Befestigungsmauern herausgewachsen war. Mit dem 1852 westlich vom Stadtkern angelegten Bahnhof verfügte St. Johann im Vergleich zu Saarbrücken über die besseren Voraussetzungen zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. In der Nachbarschaft der Doppelstadt befanden sich, inmitten von Weiden und Feldern gelegen, kleine Dörfer mit einigen hundert Einwohnern, die sich von der Landwirtschaft ernährten, darunter Malstatt und Burbach. Sie waren räumlich deutlich von den beiden Saarstädten getrennt. Bis zur Einführung der Rheinischen Städteordnung besaß die Bürgermeisterei Saarbrücken einen großen Einzugsbereich, der neben der Doppelstadt die Landgemeinden Malstatt, Burbach, Rußhütte und Brebach umfasste. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Bezirksregierung in Trier eine Aufspaltung der Bürgermeisterei verhindert.
Infolge der Industrialisierung trat nun eine unterschiedliche Entwicklung der in ihre Bestandteile aufgelösten Bürgermeisterei ein. St. Johann profitierte von der Erhöhung der Kohleproduktion. Es war dank des Bahnhofs zu einem Knotenpunkt für den Handel geworden und konnte 1865 durch die Kanalisierung der Saar und den Anschluss an das französische Wasserstraßennetz seine ökonomischen Zentralitätsfunktionen weiter ausbauen. War für St. Johann die günstige Verkehrslage entscheidend für den wirtschaftlichen Bedeutungsgewinn, so zeigte sich in Malstatt-Burbach, dass die Ansiedlung eines großen Industrieunternehmens eine noch größere Dynamik auszulösen vermochte. Demgegenüber geriet (Alt-)Saarbrücken in seinem Wachstum deutlich ins Hintertreffen, denn hier fehlten sowohl die wichtigsten Verkehrsanbindungen als auch infolge der Hanglage und der unmittelbar angrenzenden französischen Staatsgrenze die Freiflächen zur Ansiedlung großer Industrieunternehmen.
In Burbach wurde 1856 auf Initiative eines belgisch-luxemburgischen Unternehmerkonsortiums ein Hüttenwerk errichtet. Dieses bildete den Keim für eine industrielle Expansion, die die gesamte dörfliche Siedlungsstruktur sprengte und auch die Entwicklung der benachbarten Saarstädte maßgeblich beeinflusste. Bereits 1861 war die Burbacher Hütte das bedeutendste Privatunternehmen in den Saarstädten. Die Roheisenproduktion, die vor allem der Herstellung von Eisenbahnschienen und Eisenträgern diente, erhöhte sich von 15.000 Tonnen im Jahre 1861 auf 288.000 Tonnen im Jahre 1905, die Zahl der Arbeiter wuchs im gleichen Zeitraum von 581 auf über 4.000. Die 1871 erfolgte Annexion von Elsass-Lothringen befreite das Saarrevier aus seiner Grenzlage und schuf einen größeren Wirtschaftsraum, der sowohl die Beschaffung notwendiger Rohstoffe (das Minette-Erz) erleichterte als auch den Absatzmarkt für saarländische Industrie- und Konsumgüter vergrößerte.
Die Bedeutung der Industrialisierung für das Bevölkerungswachstum machen folgende Ziffern deutlich. Während sich die Bevölkerung in der Kreisstadt Saarlouis von 1818-1910 um die Hälfte vermehrte, stieg sie in dem Hüttendorf Völklingen um das 23fache, in der Industriestadt Malstatt-Burbach um das 57fache. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag das Bevölkerungswachstum im Kreis Saarbrücken deutlich über den Vergleichszahlen im übrigen Deutschland. Innerhalb des Kreises entwickelten die drei Saarstädte die größte Dynamik, denn ihre Bevölkerungszahl wuchs in der Zeit von 1861 bis 1905 um das 5,3fache, von 15.726 auf 84.550. Die Bevölkerungsdichte stieg in Malstatt-Burbach von 767 Einwohner pro Quadratkilometer im Jahre 1875 auf 2.834 im Jahre 1910. Die Größenverhältnisse der drei Saarstädte verschoben sich. Saarbrücken verlor 1864 den Spitzenplatz an St. Johann. 1871, 15 Jahre nach der Gründung der Burbacher Hütte überflügelte Malstatt-Burbach St. Johann.
Das auf einer starken Zuwanderung beruhende Wachstum der Bevölkerung Malstatt-Burbachs hatte zur Folge, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur etwa die Hälfte der Stadtbewohner aus einer Familie kam, die 1860 auch schon hier wohnte. In Malstatt-Burbach, dessen Bevölkerung in der Zeit von 1860 bis 1910 von 4.000 auf fast 40.000 Einwohner anwuchs, betrug der Wanderungsgewinn etwa 15.000 Personen. Die große Mehrzahl der Zuwanderer stammte aus dem agrarisch geprägten Umland, vor allem aus den preußischen Saarkreisen, dem Hunsrück-Eifelraum sowie der Pfalz. Durchgehend gehörten mehr als 80 Prozent zur Gruppe der Nahwanderer, das heißt sie kamen aus einem Umkreis von maximal 80 Kilometern in die Saarhüttenstadt. Die Mehrzahl der Wanderer waren Männer jüngeren Alters zwischen 16 und 30 Jahren. Lediglich bei den Dienstboten überwog der Frauenanteil. Etwa zwei Drittel der Zuwanderer fanden eine Beschäftigung im gewerblichen Sektor, wo sie zumeist als gelernte oder ungelernte Arbeiter eine Anstellung erhielten. Allerdings verminderte sich ihr Anteil nach der industriellen Aufbauphase erheblich. Der Anteil der Zuwanderer im Dienstleistungsbereich wuchs hingegen gerade dann. Der zuvor vernachlässigte Ausbau der städtischen Infrastruktur der Hüttenstadt veränderte das Bedarfsprofil im Erwerbstätigenbereich. Die Integration der Zuwanderer in die vorhandene Stadtbevölkerung wurde dadurch erleichtert, dass es so gut wie keine ethnischen oder sprachlichen Minderheiten gab. 1900 betrug der Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung in Malstatt-Burbach ganze 0,7 Prozent, die Vergleichszahlen in den Nachbarstädten waren kaum höher.
Die Immigration, aber auch die unterschiedlichen Geburtenraten von Katholiken und Protestanten beeinflussten die konfessionellen Strukturen. Nach der Volkszählung von 1871 waren die beiden großen christlichen Konfessionen in allen drei Saarstädten mit 98-99 Prozent vertreten. In dem von bürgerlichen Gruppen geprägten Saarbrücken wohnten 65,4 Prozent Protestanten, in Malstatt-Burbach dominierten die Katholiken mit 70 Prozent. Die Zuwanderer waren mehrheitlich Katholiken. Für Malstatt-Burbach wurde nachgewiesen, dass die katholischen Zuwanderer überwiegend der Arbeiterschaft angehörten. Bei den zuwandernden Kaufleuten, Beamten und Angestellten waren die Protestanten stärker vertreten. Dieses Faktum schlug sich in der Einkommensstruktur nieder. Eine vergleichende Statistik zu St. Johann von 1899 zeigt, dass die evangelischen Einwohner pro Kopf 17,05 Mark Einkommensteuer im Jahr zahlten, während der Vergleichswert für Katholiken 8,90 Mark betrug. Diese Relation dürfte typisch gewesen sein. Die Konfessionsgrenzen wurden durch gemischtkonfessionelle Ehen überschritten: in Malstatt-Burbach machten sie 1867 15,1 Prozent aus, in Saarbrücken 1900 18,8 Prozent, in St. Johann 20,3 Prozent.
Verknüpft mit dem Bevölkerungswachstum waren Städtewachstum und bauliche Entwicklung. Um 1860 konnte man die Städte noch innerhalb von zehn Minuten durchqueren, die Dörfer ohnehin. Die Städte wuchsen in der Folgezeit zunehmend in ihr Umland hinein. Nach der Jahrhundertwende war die Verschmelzung so weit fortgeschritten, dass man nur noch mit Hilfe der Straßenschilder erkennen konnte, wo St. Johann aufhörte und Malstatt-Burbach anfing. Die Agglomeration erstreckte sich über viele Kilometer. In Malstatt-Burbach wurde die Lage der Industriebetriebe zum entscheidenden Faktor für die bauliche Entwicklung der beiden zunächst noch völlig unverbundenen alten Dorfsiedlungen. Eine städtebauliche Integration der zwei separaten Dorfkerne gelang nie.
Die Stadterweiterung verlief in den rasch wachsenden Industrieorten an der Saar zunächst ungeplant und anarchisch. Als das preußische Fluchtliniengesetz von 1875 den Gemeinden die Planungshoheit sicherte, waren bereits wichtige Vorentscheidungen für die Verteilung und Nutzung des städtischen Bodens gefallen. Die mangelhafte Ausstattung mit öffentlichen Versorgungseinrichtungen, Dienstleistungen, Parks und anderen Attributen städtischen Lebens war ebenfalls ein Produkt dieser Expansion, die ohne Bezug zu einem übergreifenden Gestaltungskonzept ganz von den ‚naturwüchsigen’ Interessen eines freien Waren- und Bodenmarkts gesteuert wurde, auf dem die Unternehmer aufgrund der Besitzverteilung von Grund und Boden eine größere Rolle spielten als die Gemeindeverwaltungen.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unterschieden die drei Städte in ihrer Raumnutzung nicht zwischen Wohngebieten und Gewerbe- und Industriefläche. Immer mehr Bürger empfanden die unmittelbar neben den Wohngebieten angesiedelten Industriebetriebe jedoch als störend. Zunehmend kam es ab 1890, verstärkt nach der Jahrhundertwende, zu einer Entflechtung der verschiedenen Raumnutzungen. Begüterte Familien verließen die alten Stadtkerne beziehungsweise Geschäftsstraßen, um sich in neuen Villenvierteln niederzulassen. Im Rahmen der Entflechtung wanderten auch mehrere Fabriken aus der City-Lage in städtische Randgebiete ab. In St. Johann gab es ein zentral gelegenes Geschäftsviertel und einen sehr ausgedehnten Bereich gemischter Nutzung, in dem Wohnbauten dominierten, sich allerdings auch kleinere Gewerbebetriebe ansiedelten. Saarbrücken profilierte sich zunehmend als Wohn- und Verwaltungsstadt. Hier befinden sich heute noch – in guter alter Tradition – das Regierungsviertel und der Saarländische Landtag. In Malstatt-Burbach dominierte die industrielle Nutzung des städtischen Raumes so sehr, dass die anderen Funktionen zurücktraten. Das Wohnen und das gesamte Leben vollzogen sich hier im Bannkreis der Schwerindustrie. Der Baurat Julius Ammer bewertete 1926 die dortige bauliche Entwicklung folgendermaßen, ein bis heute gültiges Urteil:
„Was hätte bei der herrlichen landschaftlichen Lage dieser Arbeiterstädte Reizvolles entstehen können! Ein unklares, aber auch durchaus unmalerisches Stadtbild, ein Kunterbunt von kreuz und quer gestellten Häusern machen die Stadtteile Malstatt und Burbach zu den unerquicklichsten Teilen der Saargroßstadt".
Das sich langsam verändernde sozialräumliche Gefüge in den Saarstädten wurde durch die 1898 eingeführte Bauordnung bestätigt und zugleich dauerhaft verfestigt. Sie teilte die Wohngebiete in drei Zonen ein. Im städtischen Kernbereich war nur eine geschlossene Bauweise zulässig, wobei die Baugrundstücke bis zu 75 Prozent überbaut werden durften. In den Gebieten außerhalb des Zentrums war eine weniger dichte Bebauung vorgeschrieben. Schließlich gab es eine so genannte Landhauszone, in der nur die offene Bauweise mit höchstens zweistöckigen Häusern zulässig war. Hier war die Ansiedlung von Gewerbebetrieben verboten. Damit konnte die geplante oder bereits fortgeschrittene Entstehung von Villenvierteln abgesichert werden. Das galt aber nur für Saarbrücken und St. Johann, in Malstatt-Burbach verzichtete man auf die Einrichtung eines solchen Landhausbezirks.
In den Villenvierteln gab es größere Bauprojekte wohlhabender Unternehmer. Der bei weitem prunkvollste Neubau entstand 1877-1880 auf dem Halberg, in der an St. Johann angrenzenden Gemeinde Brebach, wo sich Kommerzienrat Carl Ferdinand Stumm, seit 1888 Freiherr von Halberg, der Hüttenherr aus Neunkirchen (ironisch auch als „König von Saarabien" tituliert), niederließ. Die Familie Stumm war vorher Eigentümer eines Teils des Saarbrücker Schlosses gewesen, gleichfalls ein repräsentatives, dazu geschichtsträchtiges Gebäude mit einer herrschaftlichen Aura. In dem Schlossensemble auf dem Halberg empfing Stumm 1892 den deutschen Kaiser. Bei der Gestaltung ihrer privaten Villen bemühten sich auch andere Unternehmer um eine möglichst individuelle Fassadengestaltung, wobei man romanische, gotische oder auch Renaissance-Bauformen bemühte. Dem Charakter eines neogotischen Stadtschlosses entsprach das 1898 von Karl Röchling, dem damaligen Patron des Völklinger Hüttenwerkes, errichtete Haus in der Saarbrücker Hanglage (am Trillerweg 12).
Das Saartal trennte die beiden wirtschaftlich und politisch konkurrierenden großen saarländischen Unternehmer Stumm und Röchling. Träger größerer Baumaßnahmen waren ferner staatliche Behörden. Da sich die meisten Gruben in staatlichem Besitz befanden, war der Fiskus gleichzeitig der größte Unternehmer an der Saar. Er hielt auch in der Errichtung repräsentativer Bauten mit. Das imposanteste staatliche Bauprojekt war die Bergwerksdirektion in St. Johann. Die Berliner Architekten Martin Gropius (1824-1880) und Heino Schmieden (1835-1913) errichteten ein repräsentatives Verwaltungsgebäude im Stil der Palazzo-Architektur der florentinischen Renaissance. Das 1880 eingeweihte Gebäude kostete 635.000 Mark. Zuvor war das in Saarbrücken gelegene Erbprinzenpalais Sitz der Bergbauverwaltung gewesen.
Symbolischen Ausdruck fand der Aufstieg der Städte in den Rathäusern. Diese waren mehr als andere öffentliche Bauten ein Spiegel des kollektiven Selbstverständnisses der Bürger. Saarbrücken verfügte über ein repräsentatives Rathaus aus der Fürstenzeit, das am Schlossplatz allen Ansprüchen der wachsenden Stadt genügte. Es war ein markantes Element der barocken Platzkomposition und erhielt 1880 einen Bedeutungsgewinn durch den Anbau eines Sitzungssaales mit der Aufnahme von Historienbildern, die sich auf den deutsch-französischen Krieg 1870/1871 bezogen.
Der Stadt St. Johann fehlte zunächst ein vergleichbares Gebäude. 1864 diente ein schmuckloses ehemaliges Schulhaus gegenüber der evangelischen Kirche als Verwaltungsdomizil. 1900 wurde ein neues Rathaus im neugotischen Stil nach siebenjähriger Bauzeit unter Aufbringung von Gesamtkosten in Höhe von 800.000 Mark eingeweiht. Es enthielt Historiengemälde aus der Geschichte der Stadt. Der Bau fand allgemeine Bewunderung.
In Malstatt-Burbach war für die Verwaltung der Bürgermeisterei eine Wohnung für Gemeindeangelegenheiten angemietet worden. Im Jahr vor der Stadtwerdung, 1874, wurde ein neues Rathaus gebaut, ein Zweckbau, dem jeglicher repräsentativer Fassadenschmuck fehlte. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 50.000 Mark. In Malstatt-Burbach dominierte ein sachbezogenes, funktionales Verständnis des städtischen Verwaltungshandelns, dem repräsentative Motive und Prestigedenken fremd waren.
Der personale Faktor der Städtebildung spielte in Gestalt der Bürgermeister eine wichtige Rolle. Bis 1859 waren die Amtsträger durchweg Saarbrücker der Oberschicht, ehrenamtlich tätig, evangelisch. Von den elf anschließend bis 1909 in den drei Saarstädten tätigen Bürgermeistern waren alle bis auf eine Ausnahme gleichfalls evangelisch, obwohl die Stadt Malstatt-Burbach immer und St. Johann seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine mehrheitlich katholische Bevölkerung hatten. Von größerer Bedeutung war eine Verschiebung im Berufsprofil der Bürgermeister, der Übergang zur Wahl von fachlich qualifizierten auswärtigen Bewerbern. Die Professionalisierung der Kommunalverwaltung setzte sich unterhalb der Bürgermeisterebene fort. Erst der Ausbau der städtischen Fachverwaltungen erlaubte es den Städten, sich zunehmend von der bis dahin herrschenden Anpassung an die bereits vollzogene städtebauliche Entwicklung zu lösen und selbst übergreifende Planungen für die gesamte Gemeinde zu konzipieren, während sie vorher den Unternehmern und Unternehmen freie Hand gelassen hatten.
Über die auswärtigen Bürgermeister erhöhte sich der Einfluss des Staates auf die städtische Politik, und dies war auch maßgebend für die Saarbrücker Städtevereinigung im Jahre 1909, nach Jürgen Reulecke ein historisches Kuriosum, das „vor dem Ersten Weltkrieg eine Ausnahme" darstellte. 1901 stieß die Initiative des Bürgermeisters Alfred Paul Neff (1853-1934) von St. Johann zur Vereinigung der Saarstädte auf den Widerstand großer Teile der Bürgerschaft. Der Malstatt-Burbacher Kollege Paul Schmook (1860-1921) beurteilte die Stimmung für eine Städtevereinigung negativ, denn in Saarbrücken und St. Johann spreche man von der Industriestadt abschätzig als dem ‚Armenhaus’ einer künftigen Großgemeinde. Die entscheidenden Impulse zur Vereinigung kamen nicht aus Kreisen der angestammten Bevölkerung. Den Anstoß gab ein Vertreter der ‚importierten’ staatlichen Bürokratie. Landrat Richard Bötticher (1855-1934) legte 1905 in einem offenen Brief den Bürgermeistern der drei Saarstädte die Vorteile einer Städtevereinigung dar: Kostenersparnis und Planungseffizienz. Er kritisierte die kostspielige und fehlerhafte Koordination bei der Erstellung der örtlichen Bebauungspläne.
Neben der öffentlichen Auseinandersetzung über das Thema liefen die offiziellen Verhandlungen zwischen den Vertretern der drei Städte. Den Bürgermeistern, die den gesamten kommunalen und staatlichen Verwaltungsapparat hinter sich wussten, kam eine Schlüsselposition zu. Bürgermeister Neff von St. Johann und Schmook von Malstatt-Burbach, der nach dem Rücktritt Friedrich Wilhelm Feldmanns (1846-1911) zusätzlich zum kommissarischen Bürgermeister von Saarbrücken und damit in seiner Person zum Vertreter heterogener städtischer Kräfte im Vereinigungsprozess ernannt worden war, ließen sich bereitwillig zum Werkzeug des Trierer Regierungspräsidenten machen. Feldmann hatte sich als einziger der drei Bürgermeister konsequent als Repräsentant kommunaler Selbstverwaltung verstanden, während seine beiden Kollegen ihr Amt im Wesentlichen als Bestandteil der Staatsverwaltung interpretierten. Auf Geheiß des Regierungspräsidenten drängten sie die Stadtverordneten-Versammlung, die Beschlüsse zu fassen, die den Vereinigungsprozess vorantrieben.
Dem wachsenden Druck mussten sich auch die Gegner der Städtevereinigung in den Stadtverordnetenversammlungen beugen. Mittlerweile drohte nämlich Malstatt-Burbach massiv mit dem Kreisaustritt. Da die Industriestadt einen Bevölkerungsstand von nahezu 50.000 Einwohnern erreicht hatte, konnte sie von dem Recht auf Auskreisung Gebrauch machen. Damit hätten sich automatisch die Kreislasten der anderen Gemeinden erhöht. Die Bezirksregierung hatte ein eigenes Interesse am Verbleib Malstatt-Burbachs im Kreis Saarbrücken. Die junge Industriestadt galt als unruhiges Pflaster, wo der Einzug von Sozialdemokraten in den Stadtrat langfristig am ehesten zu befürchten war. Mit dem Kreisaustritt hätte die Industriestadt eine eigene Stimme im Provinziallandtag erhalten. Demnach spielte das Kalkül einer politischen Disziplinierung eine Rolle. Malstatt-Burbach fand in St. Johann einen liberalen, in Saarbrücken einen konservativen Kontrapunkt.
1907 wurden dann Vereinigungsprogramme verabschiedet. Unter dem Druck des Regierungspräsidenten kam es am 5.12.1908 zu einem Vertragsabschluss. Die hier sichtbare Dominanz des preußischen Staates gegenüber den städtischen Selbstverwaltungsorganen gründete auf der rheinischen Bürgermeisterverfassung. Die Bürgermeister, nicht etwa die in Westfalen üblichen gewählten Magistrate, waren Dreh- und Angelpunkte zwischen Stadt und Staat, zwischen Politik und Verwaltung; ihre Position entschied in der Vereinigungsfrage über Erfolg oder Scheitern.
Mit der Städtevereinigung konstituierte sich ein regionales Wirtschafts- und Verwaltungszentrum, das sich deutlich von den anderen Stadtgemeinden des weiteren Umlandes abhob und nach der Herauslösung des Montanreviers aus dem deutschen Staatsverband nach dem Ersten Weltkrieg eine Hauptstadtfunktion unter der Völkerbundsverwaltung übernehmen konnte. Durch die Eingemeindung von Dudweiler, das noch 1962 zur Stadt ernannt worden war, und etlicher weiterer anliegender Gemeinden ist die Funktion nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal gestärkt worden. [Abbildung in Marginalspalte]Karte Landeshauptstadt] Ende 2006 belief sich die Einwohnerzahl der Landeshauptstadt auf rund 178.000 (1975 hatte sie noch 205.000 betragen). Des Weiteren sind durch die Bildung eines Stadtverbandes Saarbrücken mit rund 340.000 Einwohnern (2006) die Weichen für eine weitere Expansion gestellt worden. Im Verband befinden sich neben der Landeshauptstadt vier weitere Städte, die 1914 noch Industriedörfer waren: Völklingen, Friedrichsthal, Püttlingen, Sulzbach. Sollte das Saarland einmal als Bundesland aufgelöst werden, so die Rechnung, muss das Städtekonglomerat Saarbrücken als Oberzentrum links des Rheines in irgend einer Weise eine Aufwertung erhalten, zu denken ist etwa an den Sitz einer Bezirksregierung an der Stelle von Trier.
Literatur
Burg, Peter, Saarbrücken 1789-1860. Von der Residenzstadt zum Industriezentrum, Blieskastel 2000.
Fehn, Klaus, Saarbrücken – Großstadtbildung im grenznahen Bergbau- und Industriegebiet, in: Stadt und Stadtraum, Hannover 1974, S. 105-124.
Wittenbrock, Rolf, Die drei Saarstädte in der Zeit des beschleunigten Wachstums (1860-1908), in: Rolf Wittenbrock (Hg.), Geschichte der Stadt Saarbrücken, 2 Bände, Band 2: von der Zeit des stürmischen Wachstums bis zur Gegenwart, Saarbrücken 1999, S. 11-130.
Wittenbrock, Rolf, Industriedörfer und Verstädterung, in: Richard van Dülmen (Hg.), Industriekultur an der Saar. Leben und Arbeit in einer Industrieregion 1840-1914, München 1989, S. 84-95.
Wittenbrock, Rolf, Saarstädte. Urbanisierung am Fluß, in: Richard van Dülmen und Eva Labouvie (Hg.), Die Saar. Geschichte eines Flusses, St. Ingbert 1992, S. 73-98.
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Burg, Peter, Industrialisierung und Städtebildung an der Saar, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/industrialisierung-und-staedtebildung-an-der-saar/DE-2086/lido/57d12bd0b67852.43713965 (abgerufen am 10.10.2024)