Von „unförmigen Giganten“ und „barbarischen Steinhaufen“ - Industriedörfer und die „Unfähigkeit zur Stadtentwicklung“ im Ruhrgebiet

Detlef Vonde (Wuppertal)

Bergmann Harry Gantenföhr auf einem Fahrrad, hinten: Zeche Robert Müser und Kirche in Werne, ca. 1955. (Stadt Bochum, Pressestelle)

1. Einleitung

Wenn die so ge­nann­ten „shrin­king ci­ties“,[1]  die pro­phe­zei­ten „Schrumpf­städ­te“ das schein­bar be­droh­li­che Sze­na­rio ei­ner schon na­hen Zu­kunft als das Er­geb­nis des de­mo­gra­fi­schen Wan­dels im 21. Jahr­hun­dert dar­stel­len, dann mag es schon ver­wun­dern, wenn sich His­to­ri­ker heu­te ei­ner Ur­ba­ni­sie­rungs­va­ri­an­te er­in­nern, die im Deut­schen Kai­ser­reich ge­ra­de­zu klas­sisch war im Kon­text von In­dus­tria­li­sie­rung, Wirt­schafts- und Be­völ­ke­rungs­wachs­tum: die in­dus­tri­el­len Rie­sen­dör­fer, vor al­lem ent­lang der Em­scher, die die Ge­schich­te der Stadt­ent­wick­lung im Ruhr­ge­biet so nach­hal­tig und bis heu­te spür­bar ge­prägt ha­ben.[2] 

Was ist dran an die­sem selt­sa­men Phä­no­men?

Wie sind sie ent­stan­den, die­se Ag­glo­me­ra­tio­nen, die als Pro­to­ty­pen „de­fi­zi­en­ter Ur­ba­ni­sie­run­g“[3]  in die Ge­schich­te ein­gin­gen? 

Was lässt sich his­to­risch ler­nen, wenn man In­nen­an­sich­ten die­ser eben­so be­las­te­ten, wie die Men­schen be­las­ten­den Ver­hält­nis­se in den In­dus­trie­dör­fern ent­wi­ckelt? 

2. Industriedörfer als „Urbanisierungsvariante“

In­dus­trie­dör­fer wa­ren im Kai­ser­reich ei­ne Ur­ba­ni­sie­rungs­va­ri­an­te, die es ei­gent­lich gar nicht ge­ben durf­te, zu­min­dest wenn man der Mehr­zahl von His­to­ri­kern folgt, die die deut­sche Stadt­ge­schich­te gleich­sam als ei­ne „Er­folgs­ge­schich­te“ auf der Ein­bahn­stra­ße „Mo­der­ni­sie­run­g“ dar­stel­len: Ei­ne Ge­schich­te oh­ne Brü­che, Sta­gna­tio­nen, Wi­der­sprü­che, Um­we­ge, Ab­we­ge oder gar Ver­lie­rer. Die­se aber gab es oh­ne Zwei­fel, denn die Rie­sen­dör­fer an der Em­scher wie Al­ten­es­sen, Bor­beck, Bot­trop, Ham­born, Mei­de­rich, Os­ter­feld, Schal­ke, Sterk­ra­de, Wan­ne oder Ei­ckel, um nur die be­kann­te­ren zu nen­nen, wa­ren zu stadt­ähn­li­chen Ge­bil­den auf­ge­bläh­te Zu­sam­men­bal­lun­gen von in­dus­tri­el­len Wer­ken, Ge­men­ge­la­gen aus Ar­bei­ter­sied­lun­gen, Hal­den, Bra­chen, Schie­nen­we­gen mit mehr oder we­ni­ger pro­vi­so­ri­schen Bahn­hö­fen und un­ge­pflas­ter­ten Ver­kehrs­we­gen.[4] 

 

Die Ruhr­ge­biets­li­te­ra­tur bis zur Mit­te des 20. Jahr­hun­derts mit ih­rem Hang zu „ani­mis­ti­schen Me­ta­phern“ wähl­te gern kraft­vol­le Ver­glei­che wie „bar­ba­ri­sche Stein­hau­fen“ (Max Bart­hel 1929) oder „un­för­mi­ge Gi­gan­ten“ (Fritz Löt­te 1936).[5]   Sie mein­ten da­mit die rie­si­gen In­dus­trie­dör­fer vor al­lem an der Em­scher mit ih­ren ge­ra­de­zu ex­po­nen­ti­el­len Wachs­tums­ra­ten. Städ­ti­sche Funk­tio­nen lie­ßen die­se nur in An­sät­zen er­ken­nen, wenn­gleich die vor Ort hoff­nungs­los un­ter­re­prä­sen­tier­ten bür­ger­li­chen Zwi­schen­schich­ten im­mer wie­der gern so ta­ten „als ob“. Über ein paar Vor­zei­ge­ob­jek­te, die ei­nen Hauch von Ur­ba­ni­tät vor­gau­kel­ten, ge­lang­te der eben­so ge­quäl­te wie be­hin­der­te Pla­nungs­ei­fer kom­mu­na­ler Ver­wal­tung dann auch sel­ten hin­aus. Rings­um do­mi­nier­te ei­ne in­dus­trie­dörf­li­che Tris­tesse, die sich je­dem plan­vol­len Ver­wal­tungs­han­deln ent­zog.[6] 

  Die Re­kon­struk­ti­on ih­rer Ge­schich­te führt al­so un­wei­ger­lich auch zu Fra­gen nach

  • den Kos­ten in­dus­tri­el­len Wachs­tums, 

  • den po­li­ti­schen In­ter­es­sen, 

  • den öko­no­mi­schen Zwän­gen,

  • den bü­ro­kra­ti­schen Pan­nen und Plei­ten 

im Zu­sam­men­hang der Ge­stal­tung mensch­li­cher Le­bens­räu­me.  

3. Einige Zahlen zur „Urbanisierungsvariante“

In­dus­trie­dör­fer wa­ren vor al­lem die im schwer­in­dus­tri­el­len Boom der Hoch­in­dus­tria­li­sie­rung ex­pan­die­ren­den Land­ge­mein­den der Em­scher­zo­ne, die gleich­sam über Nacht ra­san­te Auf­stie­ge in heu­te un­vor­stell­ba­ren Wachs­tums­ra­ten er­leb­ten. Wenn heu­te von der „klas­si­schen Pha­se der Ur­ba­ni­sie­run­g“[7]  die Re­de ist - Städ­te wuch­sen in den Jah­ren nach 1870 in Deutsch­land noch schnel­ler als in den USA -, dann hat­ten die­se In­dus­trie­dör­fer dar­an ganz er­heb­li­chen An­teil: häu­fig er­reich­ten sie nach den Maß­stä­ben der Zeit re­spek­ta­ble Grö­ßen von über 10.000 Ein­woh­nern, von de­nen es 1871 - be­zo­gen auf ganz Preu­ßen - zwar erst gan­ze fünf, 40 Jah­re spä­ter aber be­reits 106 gab.[8] 

Tradition trifft Moderne: Schule an der Emscher. (Stadtarchiv Herne)

 

Wenn sol­che Rie­sen­dör­fer schlie­ß­lich – wie das rhei­ni­sche Ham­born - die 100.000 Ein­woh­ner-Gren­ze über­schrit­ten, quan­ti­ta­tiv al­so im Prin­zip Groß­stadt­ni­veau er­reich­ten, dann war dies für die Zeit­ge­nos­sen we­ni­ger ein spek­ta­ku­lä­rer An­lass zum Fei­ern als viel­mehr ein öf­fent­li­cher Skan­dal, der sol­che Ge­mein­den auch über­re­gio­nal in die Schlag­zei­len brach­te: die kom­mu­na­le Selbst­ver­wal­tung, das hei­ßt die Stadt­rech­te, wur­den ih­nen näm­lich vor­ent­hal­ten. Was blieb ih­nen an­de­res üb­rig als der Wett­streit um das eher zwei­fel­haf­te Eti­kett, „Preu­ßens grö­ß­tes Dor­f“ zu sein. 

„Re­vier der gro­ßen Dör­fer“, dies ist ei­ne po­pu­lä­re Um­schrei­bung für die Ei­gen­tüm­lich­keit, die sich der schwer­in­dus­tri­el­le Bal­lungs­raum bis in die heu­ti­ge Zeit be­wahrt hat.[9]  Dies meint zum ei­nem „Po­ly­zen­tra­li­tät“, aber auch „Un­fä­hig­keit zur Stadt­ent­wick­lun­g“ und bringt da­mit die­se Ei­gen­tüm­lich­keit auf den Punkt: Jen­seits sei­ner wirt­schaft­li­chen Be­deu­tung konn­te das Re­vier zu kei­ner Zeit Me­tro­po­len­cha­rak­ter ge­win­nen,[10]  wur­den dort er­wirt­schaf­te­te Ge­win­ne viel­mehr an des­sen Rän­dern ver­zehrt. Die gro­ßen In­dus­trie­dör­fer – vor­nehm­lich ent­lang der Em­scher - bil­de­ten bis ins 20. Jahr­hun­dert hin­ein mehr als ein Drit­tel des Ur­ba­ni­sie­rungs­kon­glo­me­ra­tes „Ruhr­ge­bie­t“. So wohn­ten 1910 im Deut­schen Reich 2,47 Mil­lio­nen Men­schen in nicht­städ­ti­schen Ge­mein­den von über 10.000 Ein­woh­nern. Von den 121 Ge­mein­den die­ses Typs ent­fie­len auf das Ruhr­ge­biet 31 mit zu­sam­men 861.829 Ein­woh­nern.[11] 

Kurz vor dem Ers­ten Welt­krieg war die ra­san­te Auf­bau­pha­se des Ruhr­ge­biets weit­ge­hend ab­ge­schlos­sen, die räum­li­che Aus­deh­nung stand in ih­ren Um­ris­sen fest. Aber es han­del­te sich, so Jür­gen Reule­cke, um ei­ne „gi­gan­ti­sche(n) Ag­glo­me­ra­ti­on mit höchst krank­haf­ten und auf Dau­er selbst zer­stö­re­ri­schen Zü­gen“.[12]  Oder mit den Wor­ten des Stadt­his­to­ri­kers Le­wis Mum­ford: „Das Zeit­al­ter, das sich sei­ner ma­schi­nel­len Tri­um­phe und sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Weit­sicht rühm­te, über­ließ sei­ne ge­sell­schaft­li­che Ent­wick­lung dem Zu­fall. (…). Die In­dus­trie­dör­fer, die­se Zu­sam­men­bal­lun­gen von Fa­bri­ken wa­ren in so­zia­ler Hin­sicht pri­mi­ti­ver als die Dör­fer un­ter dem früh­mit­tel­al­ter­li­chen Feu­dal­sys­tem. (…) Ih­re vor­herr­schen­de Far­be war schwarz. Schwar­ze Rauch­wol­ken quol­len aus den Fa­brik­schorn­stei­nen, und die Ei­sen­bahn­an­la­gen, die oft tief in die Stadt hin­ein schnit­ten, ver­brei­te­ten Ruß und Asche. Shef­field, Bir­ming­ham, Pitts­burgh, Es­sen, Lil­le: In die­ser neu­en Um­welt war schwar­ze Klei­dung nur ei­ne Schutz­far­be, kein Zei­chen von Trau­er. Un­ter sol­chen Ver­hält­nis­sen muss­te man al­le Sin­ne ab­stump­fen, um le­ben zu kön­nen. Dun­kel, farb­los, bei­ßend und übel rie­chend war die­se neue Um­welt…“.[13] 

4. Innenansichten

Schau­en wir et­was ge­nau­er auf die in­ne­ren Struk­tu­ren ei­nes In­dus­trie­dor­fes. Qua­li­ta­tiv drück­te sich der Ur­ba­ni­sie­rungs­pro­zess dort, wo wahl­los Ar­beits­kräf­te und Pro­duk­ti­ons­an­la­gen zu­sam­men­ge­zo­gen wor­den wa­ren, aus durch

  •  frag­men­ta­ri­sche In­fra­struk­tur, 

  •  chro­ni­sche Un­ter­ver­sor­gung der Be­völ­ke­rung, 

  •  öko­lo­gi­sche Ver­wüs­tung, 

  •  ur­ba­ne De­fi­zi­te.[14]   

Dem Pro­zess per­so­nel­ler und räum­li­cher Ver­dich­tung folg­te erst sehr viel spä­ter die Ent­wick­lung ei­nes Sys­tems pro­fes­sio­nel­ler Da­seins­vor­sor­ge.[15]  Die In­fra­struk­tur­för­de­rung der öf­fent­li­chen Hand hat­te da­bei vor al­lem die In­dus­trie im Au­ge, die Mög­lich­kei­ten der Ver­kehrs- und Trans­port­we­ge wa­ren für die Fir­men­an­sied­lung von ent­schei­den­der Be­deu­tung.

Bes­ten­falls nach­ran­gig war da­ge­gen die Ver­sor­gung der Neu­be­völ­ke­rung. Weit­aus vor­teil­haf­ter muss­te es da­bei sein, wenn sich nicht die Kom­mu­nen, son­dern die Un­ter­neh­men selbst sich in die Pflicht ge­nom­men fühl­ten und im Werks­woh­nungs­bau ver­gleichs­wei­se at­trak­ti­ve Sied­lun­gen er­stell­ten, die meh­re­re Vor­tei­le ver­ein­ten: sie stärk­ten die Loya­li­tät zum Be­trieb und zur neu­en Le­bens­um­welt der Zu­wan­de­rer.

Die ört­li­che In­fra­struk­tur der „ver­hin­der­ten Städ­te“ konn­te nicht nur auf dem Ge­biet des Woh­nungs­baus, son­dern auch bei der hy­gie­ni­schen, me­di­zi­ni­schen und en­er­ge­ti­schen Ver­sor­gung der Be­völ­ke­rung in den Quar­tie­ren, der Ent­sor­gung und Ka­na­li­sa­ti­on, der kom­mer­zi­el­len und kul­tu­rel­len Ver­sor­gung nicht mit dem Be­völ­ke­rungs­wachs­tum Schritt hal­ten. Man­gel­haf­te hy­gie­ni­sche Ver­hält­nis­se bei der Trink­was­ser­ver- und Ab­was­ser­ent­sor­gung führ­ten häu­fig zu Seu­chen und Epi­de­mi­en. Die Pro­fit­ori­en­tie­rung pri­va­ter Ver­sor­gungs­ein­rich­tun­gen, die in den In­dus­trie­dör­fern do­mi­nier­ten, über­ließ die Ent­sor­gungs­pro­ble­me den fi­nanz­schwa­chen Kom­mu­nen, de­ren Un­wil­le oder Un­fä­hig­keit zu Grund­la­gen­in­ves­ti­tio­nen die Em­scher­zo­ne schlie­ß­lich bis an den Rand ei­ner öko­lo­gi­schen Ka­ta­stro­phe brach­te, wie noch 1901 im Raum Gel­sen­kir­chen, wo ein auf­stre­ben­der In­dus­trie­ort wie Schal­ke da­mals über kei­ner­lei ge­schlos­se­ne Ka­na­li­sa­ti­on ver­füg­te.[16] 

Es wa­ren die gro­ßen In­dus­trie­wer­ke, die mit der Wahl ih­res Stand­orts, mit der Schub­kraft ih­rer räum­li­chen Ex­pan­si­on und der Sog­wir­kung ih­res Ar­beits­kräf­te­be­darfs das Sied­lungs­ge­fü­ge an Ruhr und Em­scher dik­tiert ha­ben.[17]  So bil­de­ten sich na­he­zu über­all zu­fäl­li­ge Ge­men­ge­la­gen von Ar­beits- und Wohn­stät­ten her­aus, und da­mit ei­ne Fül­le von mit­ein­an­der un­ver­bun­de­nen (Klein)Zen­tren.[18]  Auf die­se Wei­se ent­stan­den al­so die rie­si­gen In­dus­trie­dör­fer mit ih­ren ex­po­nen­ti­el­len Wachs­tums­ra­ten, oh­ne da­bei ein wirk­lich städ­ti­sches Le­ben zu ent­fal­ten.

Ver­stärkt seit der Jahr­hun­dert­wen­de rea­li­sier­te sich in­fra­struk­tu­rel­le Mo­der­ni­sie­rung dann doch als öf­fent­lich be­grif­fe­ne Auf­ga­be in ein­zel­nen Re­nom­mier­pro­jek­ten wie der elek­tri­schen Be­leuch­tung der Haupt­ver­kehrs­we­ge und ge­werb­li­chen Tran­sit­stra­ßen, in kom­mu­na­len Stra­ßen­bahn­li­ni­en oder in äs­the­ti­sier­ter Vier­tel­bil­dung der phy­sisch un­ter­re­prä­sen­tier­ten, bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft in den Dör­fern. Die­se stan­den re­gel­mä­ßig vor dem fi­nan­zi­el­len Kol­laps, wenn ih­re auf­wen­digs­ten In­ves­ti­tio­nen in Tief­bau und Schul­we­sen die „Selbst­hei­lungs­kräf­te“ der ge­beu­tel­ten und kri­sen­an­fäl­li­gen, ge­werb­lich und so­zi­al mo­no­struk­tu­rier­ten Kom­mu­nen über­zo­gen.[19]  Was moch­te es nut­zen, wenn Zeit­ge­nos­sen noch um 1912 wie in der Zei­tung von Wan­ne fest­stell­ten: „Ein merk­wür­dig nüch­ter­nes Aus­se­hen ha­ben un­se­re Ge­mein­den be­hal­ten. Leu­te, die zum Ver­gnü­gen hier im In­dus­trie­ge­biet woh­nen, gibt es wohl nicht.“.[20] 

Zeche Osterfeld, 1904.

 

5. Machtstrukturen

Ge­mein­den wie zum Bei­spiel Wan­ne, Ei­ckel und vie­le an­de­re ver­folg­ten ei­ne den Grund­be­sitz und die In­dus­trie scho­nen­de Steu­er­po­li­tik, die sie zu ech­ten Steu­er­pa­ra­die­sen wer­den ließ, so­dass man noch 1911 auf jed­we­de Ka­na­li­sa­ti­on, Stra­ßen­pflas­te­rung oder Be­leuch­tung ver­zich­ten muss­te, ge­schwei­ge denn aus­rei­chen­de so­zia­le Für­sor­ge- oder Schul­sys­te­me ent­wi­ckeln konn­te.[21]  Än­de­rung war kaum in Sicht, wur­den die­se knap­pen fi­nan­zi­el­len Res­sour­cen doch in ei­nem Spek­trum sich ge­gen­sei­tig über­la­gern­der In­ter­es­sens­grup­pen und Macht­blö­cke ver­wal­tet, die der schwach aus­ge­bil­de­ten ört­li­chen Bü­ro­kra­tie nur en­ge Spiel­räu­me bo­ten für plan­vol­le Ge­stal­tung, zwin­gend not­wen­di­ge In­ves­ti­tio­nen, kul­tu­rel­le An­ge­bo­te oder gar so­zia­le Für­sor­ge. Mit an­de­ren Wor­ten: Die Un­fä­hig­keit zur Stadt­ent­wick­lung lag vor al­lem an der ei­gen­tüm­li­chen Macht­struk­tur im Dorf.

Dort ver­such­te ei­ne klei­ne, aber alt ein­ge­ses­se­ne Be­völ­ke­rungs­schicht sich den als be­droh­lich emp­fun­de­nen Ent­wick­lun­gen ent­ge­gen­zu­stel­len und in vie­len Ein­zel­kämp­fen ih­re ge­wohn­ten Rech­te zu ver­tei­di­gen. Wo aber we­der In­dus­tria­li­sie­rung noch Be­sie­de­lung auf­zu­hal­ten wa­ren, setz­ten schlie­ß­lich ge­wal­ti­ge Bo­den­spe­ku­la­tio­nen ein. Da­durch fan­den sich ehe­mals noch ge­nüg­sa­me bo­den­stän­di­ge Bau­ern rei­hen­wei­se als ra­sant ver­bür­ger­lich­te Ren­tiers und „Schlot­ba­ro­ne“ in Ge­mein­de- oder Stadt­rä­ten wie­der. Und fan­den of­fen­sicht­lich auch Ge­fal­len an ei­ner Po­li­tik, die den Ver­wal­tun­gen Stei­ne in den Weg leg­te, wenn die­se – an­fangs oft­mals in den Hin­ter­zim­mern von Gast­stät­ten - be­müht wa­ren, we­nigs­tens die gröbs­ten Fehl­ent­wick­lun­gen noch ir­gend­wie in den Griff ei­ner städ­ti­schen Ord­nung zu be­kom­men.[22] 

Ein Re­vier-Bür­ger­meis­ter wie­der­um - wenn er mit sei­nen Ge­mein­de­rä­ten ei­ne ver­nünf­ti­ge Sied­lungs- und So­zi­al­po­li­tik ver­fol­gen woll­te - hat­te al­so ne­ben den ge­ra­de­zu er­drü­cken­den In­ter­es­sen der In­dus­trie auch mit den in­ne­ren Que­re­len der Füh­rungs­schicht, de­ren oft­mals ir­ra­tio­na­ler Be­har­rungs­kraft und der ei­ge­nen Ver­wal­tung zu rech­nen.

Im Rhein­land wur­den die Ge­mein­de­rä­te un­ter den Be­din­gun­gen ei­nes zu­ge­spitz­ten Drei­klas­sen­wahl­rech­tes von al­ten und neu­en Grund­be­sit­zern do­mi­niert, de­ren In­ter­es­sen sich vor­nehm­lich in dem Punk­te tra­fen, die öf­fent­li­che Ver­wal­tung kurz zu hal­ten. Nach dem „Meist­be­gü­ter­ten-Rech­t“ sa­ßen 1908 bei­spiels­wei­se im Al­ten­es­se­ner Ge­mein­de­rat 20 Meist­be­gü­ter­te, aber nur zwölf ge­wähl­te Mit­glie­der, Ten­denz stei­gend.[23]  In West­fa­len be­güns­tig­te das Ge­mein­de­wahl­recht die Un­ter­neh­men, so­dass die Ver­tre­ter der In­dus­trie und ih­re An­hän­ger bald das alt­hei­mi­sche Ele­ment aus der Dorf­po­li­tik ver­dräng­ten, ei­ne la­ten­te Kon­flikt­si­tua­ti­on zwi­schen In­dus­tri­ein­ter­es­sen und Bo­den­be­sitz aber wei­ter be­stand.[24] 

Vor die­sem Hin­ter­grund wa­ren die In­ter­es­sen der Be­völ­ke­rung ei­nes In­dus­trie­dor­fes zu­nächst ge­ra­de­zu mar­gi­nal. Die Mas­se der Be­völ­ke­rung trug zu den di­rek­ten Steu­ern und über die Kom­mu­nal­zu­schlä­ge zum Ge­mein­de­haus­halt we­nig oder nichts bei und hat­te so meist kei­ne hör­ba­re Stim­me im Ge­mein­de­rat. Zu­dem war die­se Be­völ­ke­rung über­wie­gend jung und da­bei ex­trem mo­bil. „Al­len­falls bei Um­zü­gen, Kir­mes­sen, durch Sau­fe­rei­en und Rau­fe­rei­en, in de­nen sich all­ge­gen­wär­ti­ge Frus­tra­ti­on in ei­ner Un­zahl von mehr oder min­der or­ga­ni­sier­ten Ge­le­gen­hei­ten ent­lud, wur­den sie als Po­li­zei­pro­blem ak­ten­kun­di­g“.[25]  Vor al­lem aber konn­ten sich neue, zwi­schen­bür­ger­li­che Schich­ten aus klei­nen und mitt­le­ren Ge­wer­be­trei­ben­den, frei­en Dienst­leis­tungs­be­ru­fen und An­ge­stell­ten au­ßer­halb der gro­ßen In­dus­trie­wer­ke nur zö­gernd eta­blie­ren, wa­ren ge­gen­über der Ar­bei­ter­be­völ­ke­rung ge­ra­de­zu hoff­nungs­los un­ter­re­prä­sen­tiert.

Dort wo al­so die Bür­ger­stei­ge fehl­ten, war die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft selbst im Hin­ter­tref­fen. Und ge­ra­de auf die­se hät­ten sich kom­mu­na­le Ver­wal­tun­gen noch am ehes­ten stüt­zen kön­nen - ge­gen die ei­ge­ne „Selbst­ver­wal­tun­g“, die von In­dus­trie und Bo­den­spe­ku­la­ti­on be­herrscht wur­de und die Mas­se der Be­völ­ke­rung drau­ßen ließ. Um dies zu än­dern be­durf­te es be­son­de­rer Stra­te­gi­en, wenn sich ei­ne rand­stän­di­ge bür­ger­li­che Ge­sell­schaft in Al­li­anz mit den kom­mu­na­len Ver­wal­tun­gen zu Trä­gern der Pla­nung im Diens­te des „All­ge­mein­wohl­s“ auf­schwin­gen woll­te. Im­mer­hin wur­de die „de­fi­zi­en­te Ur­ba­ni­sie­run­g“ der gi­gan­tisch wu­chern­den In­dus­trie­dör­fer durch­aus als Ge­fahr für den so­zia­len Frie­den, vor al­lem aber als Hemm­schuh für die freie Ent­fal­tung des Kom­mer­zes er­kannt. Was war zu tun?

6. Auswege und Abwege: Die Stadtrechtskampagnen

In die­ses in­dus­trie­dörf­li­che Di­lem­ma aus be­grenz­ten fi­nan­zi­el­len Res­sour­cen, man­gel­haf­ter Pla­nung und blo­ckier­ten po­li­ti­schen Hand­lungs­spiel­räu­men kam et­wa ab den 1890er Jah­ren Be­we­gung durch die De­bat­te um den Er­werb von Stadt­rech­ten.[26]  An kaum ei­ner an­de­ren Stel­le ih­rer Ge­schich­te wird das Macht­ge­fü­ge der In­dus­trie­dör­fer von in­nen her bes­ser trans­pa­rent als beim Vor­gang der um die Jahr­hun­dert­wen­de ku­mu­lie­ren­den Stadt­er­he­bungs­ge­su­che. Als or­ga­ni­sa­ti­ons­ar­me Ge­bil­de ha­ben sie der Nach­welt hier sel­te­ne Quel­len hin­ter­las­sen und ge­stat­ten da­mit ex­em­pla­ri­sche Ein­bli­cke in die po­li­ti­schen Kon­zep­te im Ur­ba­ni­sie­rungs­pro­zess.[27] 

Stadterhebungsantrag Altenessen, 1899. (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz)

 

Ver­all­ge­mei­nernd lässt sich dar­aus fol­gen­de Per­spek­ti­ve be­schrei­ben:

Zu­meist han­del­te es sich bei den Stadt­er­he­bungs­an­trä­gen der in­dus­tri­el­len Land­ge­mein­den im Ruhr­ge­biet zwi­schen 1870 und 1914 um die mehr oder we­ni­ger ver­krampf­ten Ver­su­che ei­ner Al­li­anz aus Ver­wal­tungs­spit­zen und zah­len­mä­ßig un­be­deu­ten­dem Klein­bür­ger­tum, die er­starr­ten lo­ka­len Macht­ver­hält­nis­se durch ei­nen kom­mu­nal­recht­li­chen Sta­tus­wech­sel auf­zu­bre­chen, durch die Ein­füh­rung des rei­nen Drei­klas­sen­wahl­rech­tes die po­li­ti­sche Ba­sis der Selbst­ver­wal­tung zu ver­än­dern und da­mit für grö­ße­re Un­ab­hän­gig­keit von Grund­be­sitz und In­dus­trie zu sor­gen. 

Die Idee da­bei war: Über Steu­er­re­vi­sio­nen woll­te man neue Fi­nanz­quel­len er­schlie­ßen zum Woh­le ei­ner gleich­sam nach­träg­li­chen Stadt­pla­nung, die die Ar­bei­ter­ge­mein­den ins­ge­samt „ur­ba­ner“ ge­stal­ten soll­te. Die At­trak­ti­vi­tät ei­nes selb­stän­di­gen städ­ti­schen Ge­mein­we­sens soll­te die bür­ger­li­chen Zwi­schen­schich­ten stär­ken, ge­werb­li­che und ad­mi­nis­tra­ti­ve Funk­tio­nen an­zie­hen, Kul­tur zen­tral in­sze­nie­ren und da­mit wei­te­ren Mit­tel­stand an­lo­cken, der sei­ne Ge­schäfts­ge­win­ne dann am Ort ver­zeh­ren und Steu­ern zah­len wür­de. Der Traum vom Stadt­recht wur­de ge­ra­de­zu zur Zau­ber­for­mel bür­ger­li­cher Ur­ba­ni­täts­phan­ta­si­en im In­dus­trie­dorf und sorg­te für all­ge­mei­ne Be­geis­te­rung. 

Tat­säch­lich ha­ben et­li­che der Dör­fer zwi­schen Ober­hau­sen und Hamm vor dem Ers­ten Welt­krieg jahr­zehn­te­lan­ge Kam­pa­gnen für die Er­lan­gung kom­mu­na­ler Selb­stän­dig­keit ge­führt, An­trä­ge ge­stellt, die aber häu­fig auf ei­nem lan­gen, zu­meist dor­nen­rei­chen Marsch durch die In­sti­tu­tio­nen auf den Schreib­ti­schen der preu­ßi­schen Bü­ro­kra­tie oder be­reits weit im Vor­feld lo­kal­po­li­ti­scher Ani­mo­si­tä­ten und Que­re­len ver­en­de­ten. Wenn­gleich ei­ni­ge In­dus­trie­dör­fer vom preu­ßi­schen In­nen­mi­nis­te­ri­um zu Städ­ten er­ho­ben wur­den, die Mehr­zahl die­ser Ge­su­che blieb er­folg­los, auch weil die Er­geb­nis­se sprung­haft un­kon­trol­lier­ten Wachs­tums die po­li­tisch Ver­ant­wort­li­chen in Preu­ßen erst er­staun­ten, dann er­schreck­ten und schlie­ß­lich so­gar mi­li­tä­risch mo­bi­li­sier­ten.[28] 

7. Urbanisierung und soziale Kontrolle

Die Stadt­rechts­kam­pa­gnen hat­ten in der Re­gel ih­re Rech­nun­gen oh­ne ei­ne gan­ze Rei­he von Wir­ten ge­macht, ins­be­son­de­re oh­ne die Per­spek­ti­ve der staat­li­chen Zen­tral­in­stan­zen, wo die Städ­te­bil­dung in der Pha­se ei­nes for­cier­ten Ur­ba­ni­sie­rungs­pro­zes­ses vor­ran­gig den Stel­len­wert ei­nes Me­cha­nis­mus so­zia­ler Kon­trol­le ge­wann. Der preu­ßi­sche In­nen­mi­nis­ter als letz­te Ent­schei­dungs­in­stanz für die Ver­ga­be von Stadt­rech­ten wur­de sei­ner­zeit bes­tens über die La­ge in den Land­krei­sen von den zu­stän­di­gen Land­rä­ten un­ter­rich­tet; per­sön­lich war die Mi­nis­te­ri­al­bü­ro­kra­tie seit der Jahr­hun­dert­wen­de nur sel­ten zum Orts­ter­min im Re­vier zu be­we­gen. Die Land­rä­te wirk­te als ver­län­ger­ter Arm des fer­nen Mi­nis­te­ri­ums. Häu­fig ge­lang es die­sen, die ehr­gei­zi­gen Pro­jek­te ih­rer Land­ge­mein­den er­folg­reich zu hin­ter­trei­ben. Ih­re Ein­las­sun­gen zur Sa­che wa­ren in der Re­gel ne­ga­tiv, aus na­he lie­gen­den Grün­den, führ­ten sie doch in­di­rekt auf die­se Wei­se ei­nen bis­wei­len trick­rei­chen Ab­wehr­kampf ge­gen die dro­hen­de Auf­lö­sung ih­rer Ein­fluss­be­rei­che, in­dem sie den Mi­nis­ter durch dra­ma­ti­sche La­ge­be­rich­te zur Vor­sicht ge­gen­über al­len Selbst­ver­wal­tungs­am­bi­tio­nen mahn­ten.[29] 

Tat­säch­lich la­vier­te die Ruhr­ge­biets­po­li­tik des preu­ßi­schen Staa­tes seit den gro­ßen Streiks am En­de der 1880er Jah­re zwi­schen 

  • Ra­di­ka­len­pho­bie, 

  • De­sta­bi­li­sie­rungs­ängs­ten 

  • und eben­so re­pres­si­ver wie straf­fer Po­li­zei­auf­sich­t 

über die wu­chern­den Dör­fer in Preu­ßens „wil­dem Wes­ten“. 

Spä­tes­tens seit den blu­ti­gen Kra­wal­len in Her­ne 1898, das zwei Jah­re zu­vor mit städ­ti­schen Selbst­ver­wal­tungs­rech­ten aus­ge­stat­tet wor­den war, hat­te sich die an­fangs noch li­be­ra­le und durch­aus wohl­wol­len­de Be­hand­lung die­ser Ge­su­che durch das Preu­ßi­sche In­nen­mi­nis­te­ri­um end­gül­tig ver­braucht. Denn die­se Ge­su­che be­rühr­ten auch das ört­li­che Po­li­zei­sys­tem - und das war in ob­rig­keits­staat­li­cher Per­spek­ti­ve ein ech­tes Pro­blem. 1906 wur­de den Dör­fern ent­lang der Em­scher durch Er­lass des In­nen­mi­nis­te­ri­ums pau­schal je­de Aus­sicht auf den Er­werb von Stadt­rech­ten ge­nom­men.[30]  War­um? Die Ver­ga­be von Stadt­rech­ten an „pro­ble­ma­ti­sche“ Ar­bei­ter­ge­mein­den hät­te zu­gleich die Selbst­ver­wal­tung der Po­li­zei­auf­ga­ben be­deu­tet, sie wä­re „städ­ti­sch“ ge­wor­den. Und ge­nau dem galt es in ob­rig­keits­staat­li­cher Per­spek­ti­ve ge­gen­zu­steu­ern. Land­krei­se si­cher­ten die Po­li­zei­prä­senz des Staa­tes in Per­son der Land­rä­te, die als vor­ge­scho­be­ne Pos­ten der Staats­auf­sicht ge­ra­de im so­zio-po­li­tisch bri­san­ten Bal­lungs­ge­biet stra­te­gisch plat­ziert schie­nen.[31]  Das Haupt­ar­gu­ment der land­rät­li­chen Gut­ach­ten lau­te­te: An­ge­sichts der stür­mi­schen Be­völ­ke­rungs­ent­wick­lung und der stän­di­gen Fluk­tua­ti­on hoch­mo­bi­ler, fremd­län­di­scher Ar­bei­ter sei an die Ge­wäh­rung der Städ­te­ord­nung vor­erst nicht zu den­ken. Über die Re­gie­rungs­prä­si­den­ten ge­lang­ten die La­ge­be­rich­te iins Mi­nis­te­ri­um. Dort konn­te man bei­spiels­wei­se in der Stel­lung­nah­me zum An­trag der Land­ge­mein­de Al­ten­es­sen von 1898 Fol­gen­des le­sen: 

“Von den 22384 Ein­woh­nern ge­hö­ren 29 zu den Ge­wer­be­trei­ben­den in Groß­be­trie­ben, 2101 zu Ge­wer­be­trei­ben­den in Klein­be­trie­ben, 112 zum Stan­de der selb­stän­di­gen Land­wir­te, 1670 zu den Staats-, Ge­mein­de- und Pri­vat­be­am­ten aber 18157 zu den stark fluk­tu­ie­ren­den Berg­leu­ten und an­de­ren ge­werb­li­chen Ar­bei­tern, die al­so 81,1% der gan­zen Be­völ­ke­rung aus­ma­chen, wäh­rend ein Haupt­kri­te­ri­um städ­ti­schen Le­bens, der sess­haf­te Bür­ger­stand, über­haupt fehlt. (…) Zu dem Nach­teil ul­tra­mon­ta­ner pp Stadt­ver­ord­ne­ten Mehr­hei­ten und der durch sie be­ein­fluss­ten Bür­ger­meis­ter­wah­len wür­den al­so städ­ti­sche, und zwar von der Auf­sicht des Land­ra­tes ganz los­ge­lös­te Po­li­zei­ver­wal­tun­gen tre­ten. Zu wel­che Fol­gen die­ser ei­ne straf­fe Staats­auf­sicht aus­schlie­ßen­de Zu­stand in Zei­ten wirt­schaft­li­cher Kri­sen oder po­li­ti­scher Gä­rung im dich­test be­völ­ker­ten In­dus­trie­ge­biet des Preu­ßi­schen Staa­tes füh­ren könn­te, liegt auf der Hand, so dass ich mich mit dem Land­rat von Es­sen auch aus die­sen po­li­ti­schen Grün­den grund­sätz­lich ge­gen die Ver­lei­hung der Städ­te-Ord­nung an die frag­li­chen Ar­bei­ter­ge­mein­den, in die­sem Fal­le Al­ten­es­sen, aus­spre­chen(..) muss.“.[32]  

Ge­gen­über sol­chen Per­spek­ti­ven trat die Fra­ge nach dem wirk­li­chen Le­ben in den Ge­mein­den mit all sei­nen Be­las­tun­gen, De­fi­zi­ten und Ver­sor­gungs­eng­päs­sen in den Hin­ter­grund. Mit hoch­flie­gen­den Ur­ba­ni­sie­rungs­phan­ta­si­en des kauf­män­ni­schen Bür­ger­tums hat­te die Mas­se der Ar­bei­ter­be­völ­ke­rung im In­dus­trie­dorf we­nig im Sinn. Für sie mach­te es auch we­nig Un­ter­schied, von wel­cher Art Ge­mein­de­wahl­recht sie von der po­li­ti­schen Mit­be­stim­mung aus­ge­schlos­sen blieb, von wel­cher Po­li­zei sie über­wacht oder schi­ka­niert wur­de. Die Lö­sung au­ßer­be­trieb­li­cher Pro­blem­la­gen wur­den noch am ehes­ten von der So­zi­al­po­li­tik der Ar­beit­ge­ber er­war­tet.[33]  Dem­ge­gen­über stand die Fra­ge nach der Stadt­ent­wick­lung von In­dus­trie­dör­fern in ei­nem ab­ge­ho­be­nen Zu­sam­men­hang, der sich voll­stän­dig der Par­ti­zi­pa­ti­on ent­zog. Kol­lek­tiv ge­äu­ßert ha­ben sich die Ar­bei­ter – so weit er­kenn­bar – zu sol­chen Fra­gen je­den­falls kaum.[34] 

Die Stadt­ent­wür­fe des in­dus­trie­pro­vin­zi­el­len Bür­ger­tums sa­hen ih­re Trä­ger im Zen­trum der Macht, im Ge­nuss kul­tu­rel­ler An­ge­bo­te und öf­fent­li­cher Dienst­leis­tun­gen, ab­ge­schlos­sen ge­gen In­dus­trie und Ar­bei­ter­schaft. Sie ori­en­tier­ten sich an der Pro­duk­ti­on von Raf­fi­ne­ment in den Me­tro­po­len, de­ren bür­ger­li­che Zwi­schen­schich­ten die gan­ze Am­bi­va­lenz der Ur­ba­ni­sie­rungs­er­fah­run­gen nicht nur the­ma­ti­sier­ten, son­dern, aus­ge­stat­tet mit tech­ni­schen „know how“, Macht- und Fi­nanz­mit­teln, sich die Sub­li­mie­rung ih­rer Alp­träu­me auch et­was kos­ten las­sen konn­ten. Im Re­vier aber, wo sich das Reich sei­ne Waf­fen schmie­den ließ, ver­küm­mer­ten sol­che Ent­wür­fe ex­klu­si­ver Auf­brü­che aus der Pro­vin­zia­li­tät auf dem Pa­pier: ur­ba­ne Phan­ta­si­en lie­ßen sich in In­dus­trie­dör­fern, wo es an wirk­li­chen Macht- und Gel­de­li­ten fehl­te, nicht rea­li­sie­ren. So schlicht die­se Kon­zep­te im Prin­zip ge­strickt wa­ren, so er­folg­los blie­ben sie. 

Und die wei­te­re Ent­wick­lung?

Die Ein­ge­mein­dungs­wel­len vor dem Ers­ten Welt­krieg, de­nen die ge­beu­tel­ten In­dus­trie­dör­fer dann so­zu­sa­gen „zum Op­fer fie­len“, än­der­te nur we­nig an der Geo­gra­phie der so­zia­len Klas­sen. In­fra­struk­tur­leis­tun­gen wur­den al­len­falls zö­gernd in die neu­en Vor­or­te ex­por­tiert. Dies trug zu dem spe­zi­fi­schen Ko­lo­nie­cha­rak­ter vie­ler Sied­lungs­zu­sam­men­hän­ge bei und war mit da­für ver­ant­wort­lich, dass die Iden­ti­fi­ka­ti­on der Be­völ­ke­rung des Ruhr­ge­biets sich bis heu­te we­ni­ger auf „die Stadt als sol­che“, als viel­mehr auf ein­zel­ne ih­rer Tei­le rich­tet.[35]  

Was al­so lässt sich aus der Ge­schich­te der In­dus­trie­dör­fer im Ruhr­ge­biet his­to­risch ler­nen? Lutz Nietham­mer hat ein­mal ge­sagt: „Be­reits die ober­fläch­li­che Kennt­nis ei­nes gro­ßen In­dus­trie­dor­fes legt die Ein­sicht na­he, dass Ur­ba­ni­sie­rung nicht zwangs­läu­fig aus In­dus­tria­li­sie­rung folgt.“.[36]  Ich möch­te hin­zu­fü­gen, dass in der klas­si­schen Pha­se der Ur­ba­ni­sie­rung die Ent­wick­lungs­mus­ter des Re­viers lang­fris­tig fest­ge­legt wur­den. Sie brach­te qua­si als „Nach­ge­bur­t“ auch die Fik­ti­on ei­ner ur­ba­nen Zu­kunft der in­dus­tri­el­len Pro­vinz, der aber selbst als Ent­wurf wirk­lich hu­ma­ne Qua­li­tä­ten fehl­ten.[37]  Von der Rea­li­tät des Le­bens­um­fel­des der Be­völ­ke­rung ganz zu schwei­gen.

Doch zu­rück zu den schrump­fen­den Städ­ten in Ge­gen­wart und Zu­kunft. Über 150 Jah­re war Stadt­ent­wick­lung als Ur­ba­ni­sie­rung un­ter in­dus­tri­el­len Be­din­gun­gen an die Per­spek­ti­ve schein­bar un­be­grenz­ten Wachs­tums ge­bun­den. Die­se Zei­ten sind vor­bei. Ei­ne Ge­le­gen­heit, über die Chan­cen des Schrump­fens nach­zu­den­ken? 

Literatur

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Inszenierungsversuche: Kaiserpassage Wanne, 1904. (Stadtarchiv Herne)

 
Anmerkungen
Zitationshinweis

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Vonde, Detlef, Von „unförmigen Giganten“ und „barbarischen Steinhaufen“ - Industriedörfer und die „Unfähigkeit zur Stadtentwicklung“ im Ruhrgebiet, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/von-unfoermigen-giganten-und-barbarischen-steinhaufen---industriedoerfer-und-die-unfaehigkeit-zur-stadtentwicklung-im-ruhrgebiet/DE-2086/lido/57d12eecdcfe43.34909795 (abgerufen am 06.11.2024)