Die rheinischen Großstädte während der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 (Teil I – Rahmenbedingungen und Ausgangslage vor der Krise)

Lothar Weiß (Frechen)

Karl Bergemann, Porträtfoto.

1. Einleitung

Die so ge­nann­te „Welt­wirt­schafts­kri­se“ oder „Gro­ße De­pres­si­on“ in den Jah­ren 1929 bis 1932/1933 ist un­ter tem­po­rä­rem Maß­stab nur ei­ne his­to­ri­sche Epi­so­de. Ih­re po­li­ti­sche und öko­no­mi­sche Wir­kungs­ge­schich­te, wel­che sich bis in den An­fang des 21. Jahr­hun­derts ver­fol­gen lässt, ge­hört zu den nach­hal­tigs­ten der deut­schen Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts. In der Ge­schich­te der Theo­rie der Wirt­schafts­po­li­tik fand sie ih­ren Nie­der­schlag in der Ent­wick­lung ei­ner an­ti­zy­kli­schen Kon­junk­tur­po­li­tik, die nach dem Be­grün­der, dem bri­ti­schen Öko­no­men John M. Keynes (1886-1946) als „Keyne­sia­nis­mus“ be­zeich­net wird. Für die Groß­städ­te im Rhein­land soll­te die­se Wirt­schafts­kri­se ganz au­ßer­or­dent­li­che und tief grei­fen­de Her­aus­for­de­run­gen stel­len. Die sechs grö­ß­ten un­ter ih­nen mit mehr als 200.000 Ein­woh­nern la­gen im nörd­li­chen Rhein­land. Nach dem Stand vom 1.8.1929, als die kom­mu­na­le Neu­ord­nung für den Re­gie­rungs­be­zirk Düs­sel­dorf wirk­sam wur­de, wa­ren dies ne­ben Köln die Städ­te Düs­sel­dorfDuis­burg-Ham­born, Es­sen, Glad­bach-Rhe­ydt (heu­te Mön­chen­glad­bach) un­d Wup­per­tal.

2. Die politischen Rahmenbedingungen im Reich und in Preußen

Die Wirt­schafts­kri­se, auch als „Gro­ße De­pres­si­on“ be­zeich­net, ver­stärk­te die Kri­se des Staa­tes und der Ge­sell­schaft in den letz­ten Jah­ren der ers­ten deut­schen Re­pu­blik und De­mo­kra­tie.

 

Die nur kurz­zei­tig sta­bi­li­sier­te Ba­sis der Wei­ma­rer Re­pu­blik wur­de wie­der la­bil, weil ih­re de­mo­kra­ti­schen und ver­fas­sungs­treu­en Kräf­te im­mer mehr in die De­fen­si­ve ge­rie­ten. Links- und Rechts­ex­tre­me ge­wan­nen den Zu­spruch. Die zer­split­ter­te Wäh­ler­schaft und das rei­ne Ver­hält­nis­wahl­recht pro­du­zier­ten ein Viel­par­tei­en­sys­tem, das zu stän­dig neu­en Mehr­par­tei­en­ko­ali­tio­nen bei der Re­gie­rungs­bil­dung im Reich zwang. Ver­stärkt wur­de die­se La­ge durch das am­bi­va­len­te Ver­fas­sungs­ge­fü­ge, wel­ches sich im Amt des Reichs­kanz­lers kon­zen­trier­te. Ei­ner­seits war der Reichs­kanz­ler grund­sätz­lich von ei­ner Mehr­heit der Ab­ge­ord­ne­ten im Reichs­tag ab­hän­gig, die ihn wähl­te und un­ter­stütz­te. An­de­rer­seits muss­te er auf das Wohl­wol­len und Ver­trau­en des Reichs­prä­si­den­ten als Staats­ober­haupt der Re­pu­blik ach­ten, wel­cher als „Er­satz­kai­ser“ durch ver­fas­sungs­mä­ßig sank­tio­nier­te au­to­kra­ti­sche Ent­schei­dun­gen über ei­ne gro­ße Macht­fül­le ver­füg­te. Vor al­lem in Fäl­len des tat­säch­li­chen, an­ge­nom­me­nen oder vor­sätz­lich her­bei­ge­führ­ten Staats­not­stan­des mach­te der Reichs­prä­si­dent oh­ne Wei­te­res vom Recht der so ge­nann­ten „Not­ver­ord­nun­gen“ nach Ar­ti­kel 48 der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung (WRV) reich­lich Ge­brauch, wel­che de fac­to das Ge­setz­ge­bungs­recht der Le­gis­la­ti­ve aus­he­bel­ten.

Ei­ne Viel­zahl von Grün­den und Mo­ti­ven führ­te da­zu, dass in den letz­ten Jah­ren der De­mo­kra­tie bis zur na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me ab En­de Ja­nu­ar 1933 der Reichs­prä­si­dent und sei­ne Ka­ma­ril­la zu den ma­ß­geb­li­chen Ent­schei­dungs­trä­gern der Re­pu­blik wur­den. Reichs­prä­si­dent Paul von Hin­den­burg (1847-1934, Amts­zeit 1925-1934), in fai­ren und frei­en Wah­len zum Staats­ober­haupt ge­wählt, soll­te die Sehn­sucht vie­ler Deut­scher nach ge­ord­ne­ten und ru­hi­gen po­li­ti­schen Ver­hält­nis­sen durch sei­ne Bio­gra­phie als kai­ser­li­cher Ge­ne­ral­feld­mar­schall im Ru­he­stand mit dem My­thos der sieg­rei­chen Schlacht von Tan­nen­berg 1914 in Ost­preu­ßen stil­len. Zwei­fel­los be­saß er auch be­frie­den­de Qua­li­tä­ten und hielt sich im We­sent­li­chen an den Rah­men der Ver­fas­sungs­ord­nung. Sei­ne Per­sön­lich­keit und Amts­füh­rung „über den Par­tei­en“ ent­sprach si­cher eben­so den Vor­stel­lun­gen gro­ßer Tei­le der bür­ger­li­chen Mit­tel­schicht und der po­li­ti­schen und öko­no­mi­schen Eli­te des Lan­des. Aber ein über­zeug­ter De­mo­krat, der sich mit Herz­blut für ei­ne plu­ra­lis­ti­sche Ge­sell­schafts­ord­nung ein­setz­te, wur­de er nie. 

Von ei­ner Kon­ti­nui­tät der Reichs­re­gie­rung konn­te al­ler­dings kei­ne Re­de sein. Der häu­fi­ge Wech­sel der Kanz­ler, Mi­nis­ter und po­li­ti­schen Be­am­ten muss­te zwangs­läu­fig die Macht der Bü­ro­kra­tie stär­ken. Die Amts­zei­ten der Reichs­kanz­ler wa­ren ex­trem kurz, die der Reichs­ka­bi­net­te un­ter ih­rer Lei­tung noch kür­zer. Die Gro­ße Ko­ali­ti­on aus SPD, dem ka­tho­li­schen Zen­trum, der baye­risch-ka­tho­li­schen BVP, der links­li­be­ra­len DDP und der rechts­li­be­ra­len DVP un­ter dem so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Reichs­kanz­ler Her­mann Mül­ler (1876-1931, Amts­zei­ten 1920 und 1928-1930) am­tier­te mit 22 Mo­na­ten am längs­ten. Als sie am 27.3.1930 we­gen wirt­schafts­po­li­ti­scher Ge­gen­sät­ze aus­ein­an­der­brach, war dies der Be­ginn der letz­ten Pha­se der Wei­ma­rer De­mo­kra­tie. Es ka­men nur noch Reichs­kanz­ler und Reichs­ka­bi­net­te von Hin­den­burgs Gna­den zum Zu­ge. Tief­grün­di­ges Ver­ständ­nis für die Spe­zi­fi­ka der Kom­mu­nal­po­li­tik brach­ten sie nicht auf.

Reichskanzler Heinrich Brüning, Porträtfoto. (Bundesarchiv, Bild 183-1989-0630-504)

 

Das ers­te der „Prä­si­di­al­ka­bi­net­te“ stand un­ter der Lei­tung des Zen­trums­po­li­ti­kers Dr. Hein­rich Brü­ning (1885-1970, Amts­zeit 1930-1932). Es konn­te sich bei sei­nen Ent­schei­dun­gen im­mer­hin noch auf die To­le­rie­rungs­po­li­tik der SPD stüt­zen. Auf ei­ne Zu­sam­men­ar­beit mit den Par­la­men­ta­ri­ern im Reichs­tag leg­ten die bei­den Nach­fol­ger Brü­nings bis zur Kanz­ler­schaft Hit­lers kei­nen Wert mehr. Dem „ab­ge­fal­le­nen“ Zen­trums­po­li­ti­ker Franz von Pa­pen (1879-1969, Amts­zeit Ju­ni -De­zem­ber 1932) war ei­ne Ver­samm­lung von Adels­ti­tel­trä­gern als „Ka­bi­nett der Ba­ro­ne“ wich­ti­ger als das Vo­tum des Reichs­tags für sei­ne Po­li­tik. Sein in­tri­gan­ter Pro­tek­tor im Um­kreis des Reichs­prä­si­den­ten, Ge­ne­ral­leut­nant Kurt von Schlei­cher (1882-1934), blieb als Reichs­kanz­ler von De­zem­ber 1932 bis - Ja­nu­ar 1933 ei­ne kaum be­merk­ba­re his­to­ri­sche Epi­so­de, weil sein Pro­te­gé von Pa­pen über ei­ne nicht min­de­re Aus­prä­gung die­ser Ei­gen­schaft ver­füg­te und ihn via Hin­den­burg aus dem Kanz­ler­amt dräng­te. Brü­nings wirt­schafts­po­li­ti­sche Maß­nah­men und die Hoch­zins­po­li­tik der Reichs­bank un­ter ih­ren Prä­si­den­ten Dr. Hjal­mar Schacht (1877-1970, Amts­zeit 1923-1930 und 1933-1939) un­d Dr. Hans Lu­ther (Amts­zeit 1930-1933), ehe­mals Ober­bür­ger­meis­ter von Es­sen, wel­che stark vom noch fri­schen Trau­ma der Hy­per­in­fla­ti­on ge­prägt wa­ren, er­wie­sen sich für die Wirt­schafts­kon­junk­tur ins­ge­samt als fa­tal pro­zy­klisch und ver­tief­ten den be­reits im Jahr 1928 ein­set­zen­den Ab­schwung. In der In­nen­po­li­tik brach­ten sie ei­nen mas­si­ven An­stieg der Er­werbs­lo­sig­keit und Kurz­ar­beit, wel­cher als Ka­ta­ly­sa­tor der po­li­ti­schen Ra­di­ka­li­sie­rung und Ge­walt­tä­tig­keit wirk­te.

Franz von Papen, Porträtfoto, 1933. (Bundesarchiv, Bild 183-1988-0113-500)

 

Au­ßen­po­li­tisch mach­te die­se Po­li­tik Ein­druck. Die Re­pa­ra­ti­ons­las­ten Deutsch­lands aus dem Ver­sailler Frie­dens­ver­trag wur­den end­lich ei­ner Re­ge­lung mit den al­li­ier­ten Sie­gern im „Young-Plan“ zu­ge­führt. In der In­nen­po­li­tik schei­ter­te ein Volks­be­geh­ren ge­gen den Young-Plan, aber der Streit um ihn ra­di­ka­li­sier­te die po­li­ti­sche Stim­mung wei­ter. Die Ket­te von Reichs­tags-, Reichs­prä­si­den­ten-, Land­tags- und Kom­mu­nal­wah­len so­wie Volks­be­geh­ren und -ab­stim­mun­gen bo­ten im­mer neue An­läs­se mit pla­ka­ti­ven Ar­gu­men­ten an­stel­le von nach­hal­ti­gen Kon­zep­ten Wäh­ler zu mo­bi­li­sie­ren. Von 1929 bis zur Er­nen­nung Adolf Hit­lers (1889-1945) zum Reichs­kanz­ler am 30.1.1933 (Amts­zeit bis 1945) fan­den drei Reichs­tags­wah­len 1930 und 1932, zwei Wahl­gän­ge für das Amt des Reichs­prä­si­den­ten 1932, ei­ne Wahl zum Preu­ßi­schen Land­tag 1932 und Wah­len zum Pro­vin­zi­al­land­tag der Rhein­pro­vinz und zu den Kom­mu­nal­ver­tre­tun­gen in Ge­mein­den, Städ­ten und Land­krei­sen 1929 statt. Im Ver­gleich zu den je­wei­li­gen frü­he­ren Wahl­er­geb­nis­sen trat bei den Wah­len auf dem Hö­he­punkt der Aus­wir­kun­gen der Wirt­schafts­kri­se im Jahr 1932 ei­ne deut­li­che Ra­di­ka­li­sie­rung der Wäh­ler­schaft ein. Schlie­ß­lich fand sich im Reichs­tag nur noch ei­ne de­struk­ti­ve Mehr­heit aus Ver­fas­sungs­fein­den. Ins­be­son­de­re den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ge­lang es, zur letzt­lich be­stim­men­den po­li­ti­schen Kraft im Lan­de auf­zu­stei­gen. 

Im Un­ter­schied zur Reichs­po­li­tik er­wies sich die po­li­ti­sche La­ge im Frei­staat Preu­ßen als au­ßer­or­dent­lich sta­bil. Der de­mo­kra­ti­sche Fels in der Bran­dung der Reichs­po­li­tik war per­so­ni­fi­ziert im so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen preu­ßi­schen Mi­nis­ter­prä­si­den­ten Ot­to Braun (1872-1955, Amts­zeit 1920-1952) und in den en­ga­gier­ten In­nen­mi­nis­tern Carl Se­ve­ring (1875-1952, Amts­zei­ten 1920-1926 und 1930-1932) und Al­bert Grzes­in­ski (1879-1947, Amts­zeit 1926-1930), bei­de SPD, die kei­nen Au­gen­blick ei­nen Zwei­fel an ih­rer de­mo­kra­ti­schen Ge­sin­nung auf­kom­men lie­ßen. Bei­de In­nen­mi­nis­ter leg­ten ge­stei­ger­ten Wert auf die Re­pu­bliktreue der Po­li­zei und der Be­am­ten­schaft. Die von die­sen ein­fluss­rei­chen In­nen­mi­nis­tern kom­man­dier­te Lan­des­po­li­zei war die mit wei­tem Ab­stand grö­ß­te im Deut­schen Reich und da­mit ein her­aus­ra­gen­der Macht­fak­tor, den es zu be­ach­ten galt. Al­ler­dings gab es auch Schwie­rig­kei­ten, da nun na­tür­li­cher­wei­se die Köp­fe der Staats­be­diens­te­ten mit dem Wech­sel des po­li­ti­schen Sys­tems nicht  ein­fach aus­ge­tauscht wer­den konn­ten. Die Mehr­heit von ih­nen hat­te die Aus­bil­dung oder die Lauf­bahn be­reits in der Mon­ar­chie bis 1918 be­gon­nen. Alt­her­ge­brach­te Denk­mus­ter wur­den wei­ter ein­ge­setzt.

Hans Luther, Porträtfoto. (Stadtbildstelle Essen)

 

Stel­len für po­li­ti­sche Be­am­te wie die der Re­gie­rungs­prä­si­den­ten und der Ober­prä­si­den­ten der preu­ßi­schen Pro­vin­zen wur­den mit Per­sön­lich­kei­ten be­setzt, die un­ter Um­stän­den nicht die Vor­aus­set­zun­gen für die hö­he­re Be­am­ten­lauf­bahn er­füll­ten, je­doch po­li­tisch loy­al wa­ren. Hier­zu ge­hör­te im Rhein­land zu­erst der Düs­sel­dor­fer Re­gie­rungs­prä­si­dent Karl Ber­ge­mann (SPD, 1878-1949, Amts­zeit 1924-1933). Ei­gent­lich gab es ein „Ju­ris­ten­mo­no­pol“ bei der Kom­mu­nal­auf­sicht der Re­gie­rungs­prä­si­den­ten, des Ober­prä­si­den­ten der Rhein­pro­vinz und der Kom­mu­nal­ab­tei­lung des Preu­ßi­schen Mi­nis­te­ri­ums des In­nern. Die Re­gie­rungs­prä­si­den­ten in Aa­chen, Ko­blenz, Köln und Trier und der Ober­prä­si­dent der Rhein­pro­vinz wa­ren Ver­wal­tungs­ju­ris­ten, die ent­we­der dem ka­tho­li­schen Zen­trum oder kei­ner Par­tei an­ge­hör­ten. An­ge­sichts die­ser Pha­lanx fiel der Düs­sel­dor­fer Re­gie­rungs­prä­si­dent Karl Ber­ge­mann in je­der Hin­sicht auf. Ber­ge­mann hat­te ei­ne Aus­bil­dung als Zim­me­rer ge­macht und war vor sei­ner Be­hör­den­lauf­bahn Ge­werk­schafts- und Par­tei­funk­tio­när ge­we­sen. Er ge­hör­te als ein­zi­ger un­ter sei­nen rhei­ni­schen Kol­le­gen der SPD an wie bis 1932 sein zu­stän­di­ger Mi­nis­ter in Ber­lin. Ber­ge­mann nahm sein Amt mit Ge­spür für die An­for­de­run­gen des grö­ß­ten preu­ßi­schen Re­gie­rungs­be­zirks wahr, in dem fünf der sechs grö­ß­ten rhei­ni­schen Groß­städ­te mit ins­ge­samt fast 2,4 Mil­lio­nen Ein­woh­nern (Durch­schnitt 1930) la­gen.

Von kurz­zei­ti­gen Un­ter­bre­chun­gen ab­ge­se­hen, führ­te der preu­ßi­sche Mi­nis­ter­prä­si­dent Braun ei­ne lang­an­dau­ern­de Staats­re­gie­rung an, die von ei­ner weit­ge­hend har­mo­ni­schen Ko­ali­ti­on aus SPD und ka­tho­li­schem Zen­trum, links­li­be­ra­ler DDP (spä­ter DStP) und zeit­wei­lig rechts­li­be­ra­ler DVP an, die sich auf ei­ne sta­bi­le Mehr­heit im Preu­ßi­schen Land­tag stütz­te. Prä­si­dent der „zwei­ten Kam­mer“, dem Preu­ßi­schen Staats­rat als Ver­tre­tung der Pro­vin­zen bei der Lan­des­ge­setz­ge­bung und -ver­wal­tung, war von 1921 bis 1933 der Köl­ner Ober­bür­ger­meis­ter und Zen­trums­po­li­ti­ker Dr. Kon­rad Ade­nau­er. Ihm lag es eben­so wie der Staats­re­gie­rung fern, sich auf ei­ne ernst­haf­te Zu­sam­men­ar­beit mit den po­li­ti­schen Ex­tre­mis­ten ein­zu­las­sen. Das grö­ß­te deut­sche Land war aber kei­ne „In­sel der Se­li­gen“, die sich auf Dau­er der all­ge­mei­nen po­li­ti­schen Stim­mung im Reich ent­zie­hen konn­te.

Karl Bergemann, Porträtfoto.

 

Bei der Land­tags­wahl vom 24.4.1932 ver­lor we­gen der schwe­ren Ver­lus­te der SPD und der Li­be­ra­len die bis­he­ri­ge Ko­ali­ti­on die Mehr­heit im Land­tag. Mit ei­nem Sprung ih­res Stim­men­an­teils von 1,8 Pro­zent (1928) auf 36,3 Pro­zent wur­de die NS­DAP schlag­ar­tig stärks­te Par­tei und stell­te nun den Land­tags­prä­si­den­ten mit dem NS­DAP-Po­li­ti­ker Hanns Kerrl (1887-1941, Amts­zeit 1932-1933). Die KPD auf der links­ex­tre­men Sei­te des po­li­ti­schen Spek­trums konn­te ih­ren Stim­men­an­teil leicht stei­gern. Nun gab es ei­ne ne­ga­ti­ve Mehr­heit im Land­tag, die je­de Neu­bil­dung ei­ner Re­gie­rung ver­hin­der­te. Die bis­he­ri­ge Ko­ali­ti­on un­ter Braun blieb zwar im Amt, al­ler­dings nur noch ge­schäfts­füh­rend oh­ne Land­tags­mehr­heit. Da­mit hat­te das grö­ß­te deut­sche Land ei­ne nur vor­läu­fi­ge und eher in­sta­bi­le Re­gie­rung. Ge­nau hier setz­te nun der He­bel von Reichs­kanz­ler von Pa­pen an, wel­cher auch als „Preu­ßen­schlag“ in die Ge­schichts­bü­cher ein­ge­gan­gen ist. Mit sei­nem le­bens­fro­hen Op­por­tu­nis­mus, der Wag­hal­sig­keit ei­nes Her­ren­rei­ters und sei­ner Skru­pel­lo­sig­keit im Um­gang mit Macht und Recht konn­te sich von Pa­pen durch­set­zen. Re­si­gna­ti­ons­er­schei­nun­gen, Über­ra­schungs­ef­fek­te und Ab­wä­gun­gen der Ge­fahr ei­nes Bür­ger­krie­ges bei Wi­der­stand ge­gen den Staats­streich ver­hin­der­ten ein wir­kungs­vol­les Vor­ge­hen der ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Staats­re­gie­rung Preu­ßens ge­gen die au­to­ri­tä­re Ok­ku­pa­ti­on von Macht in Preu­ßen. An die Stel­le des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten trat von Pa­pen als „Reichs­kom­mis­sar für das Land Preu­ßen“. Die Mi­nis­ter wur­den durch von ihm Be­ru­fe­ne er­setzt. Un­ter ih­nen be­fand sich der ehe­ma­li­ge Ober­bür­ger­meis­ter von Es­sen, Franz Bracht (1877-1933), der als „stell­ver­tre­ten­der Reichs­kom­mis­sar für das Land Preu­ßen“ mit der „Wahr­neh­mung der Ge­schäf­te des Preu­ßi­schen Mi­nis­ters des In­nern“ be­auf­tragt war, um noch im sel­ben Jahr Reichs­mi­nis­ter oh­ne Ge­schäfts­be­reich und da­nach Reich­sin­nen­mi­nis­ter zu wer­den. Zü­gig wur­de ein um­fang­rei­ches Re­vi­re­ment von po­li­tisch ein­fluss­rei­chem Per­so­nal des hö­he­ren Diens­tes in den Mi­nis­te­ri­en und der all­ge­mei­nen Lan­des­ver­wal­tung an­hand von Lis­ten in An­griff ge­nom­men. Der bis­he­ri­ge Mi­nis­te­ri­al­di­rek­tor der Kom­mu­nal­ab­tei­lung im preu­ßi­schen In­nen­mi­nis­te­ri­um und da­mit höchs­te Lauf­bahn­be­am­te der Staats­auf­sicht über die Städ­te, Krei­se und Ge­mein­den, Dr. Vic­tor von Ley­den (1880-1963, Amts­zeit 1926-1932), wur­de ge­gen sei­nen ehr­gei­zi­gen Mit­ar­bei­ter Dr. Fried­rich Karl Su­rén (1888-1969, Amts­zeit 1932-1944) aus­ge­tauscht, wel­cher sich bald als rechts­kon­ser­va­ti­ver Prak­ti­ker mit ei­nem au­to­ri­tä­ren Staats­ver­ständ­nis er­wei­sen soll­te. Da­mit stand das grö­ß­te deut­sche Land und sei­ne Kom­mu­nal­auf­sicht un­ter der di­rek­ten Ku­ra­tel der Reichs­po­li­tik.

3. Die juristischen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume der Kommunalpolitik

Für die rhei­ni­schen Groß­städ­te galt die Rhei­ni­sche Städ­te­ord­nung vom 15.5.1856 als Kom­mu­nal­ver­fas­sung. Das Drei­klas­sen­wahl­recht der preu­ßi­schen Mon­ar­chie un­ter Aus­schluss der Frau­en war nach der No­vem­ber­re­vo­lu­ti­on 1918 durch die pro­vi­so­ri­sche Re­gie­rung der Volks­be­auf­trag­ten 1919 zu­guns­ten der Gleich­heit al­ler Stim­men und des Frau­en­stimm­rechts er­setzt wor­den. Die ganz kon­se­quen­te Um­set­zung des Gleich­heits­grund­sat­zes bei der Um­wand­lung der ab­ge­ge­be­nen gül­ti­gen Stim­me in Man­da­te in den Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lun­gen führ­te im Zu­sam­men­hang mit der ex­tre­men Zer­split­te­rung der po­li­ti­schen In­ter­es­sen zu ei­ner Par­tei­en­viel­falt, die sich mit ei­ni­ger Mü­he zu kon­struk­ti­ven dau­er­haf­ten Mehr­hei­ten für po­li­ti­sche Wil­lens­äu­ße­run­gen zu­sam­men­fand. Dar­über hin­aus war das Kom­mu­nal­recht von Kon­ti­nui­tät be­stimmt.

Hier ist auf die Wahl­be­am­ten an der Spit­ze der Kom­mu­nal­ver­wal­tung hin­zu­wei­sen. Zwar war die al­te „Ho­no­ra­tio­ren­herr­lich­keit“ vor­bei, der Par­tei­en­pro­porz griff um sich und führ­te zu ei­ner De­mo­kra­ti­sie­rung und so­zia­len Dif­fe­ren­zie­rung der po­li­ti­schen Lei­tung der Stadt. Das Amt des Ober­bür­ger­meis­ters blieb aber un­an­ge­tas­tet. Von der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung auf zwölf Jah­re ge­wählt und vom In­nen­mi­nis­ter in Ber­lin als obers­te Kom­mu­nal­auf­sicht be­stä­tigt, wa­ren die Ober­bür­ger­meis­ter nach der Rhei­ni­schen Städ­te­ord­nung die zen­tra­len Macht­fi­gu­ren in den rhei­ni­schen Groß­städ­ten. Oh­ne die­se Ober­bür­ger­meis­ter lief in den Städ­ten prak­tisch nichts We­sent­li­ches. Sie sa­ßen al­len ent­schei­den­den städ­ti­schen Gre­mi­en und Kör­per­schaf­ten vor oder lie­ßen sich von wei­sungs­ge­bun­de­nen Be­am­ten ver­tre­ten. Sie wa­ren obers­te Chefs von un­ter Um­stän­den meh­re­ren tau­send städ­ti­schen Be­am­ten, An­ge­stell­ten und Ar­bei­tern, sie lei­te­ten die Sit­zun­gen der „Stadt­par­la­men­te“ und be­stimm­ten de­ren Ta­ges­ord­nun­gen und Ent­schei­dun­gen ma­ß­geb­lich, sie di­ri­gier­ten ei­ne Viel­zahl von Be­trie­ben und Ge­sell­schaf­ten wie Spar­kas­sen und Stadt­wer­ke und sie wa­ren die obers­ten Re­prä­sen­tan­ten ih­rer Städ­te.

Die in­ner­städ­ti­sche Macht­fül­le der rhei­ni­schen Ober­bür­ger­meis­ter fand ih­re lo­gi­sche Fort­set­zung in den po­li­ti­schen Ein­fluss­mög­lich­kei­ten, die ih­nen – je nach Per­sön­lich­keit und je nach Grö­ße und wirt­schaft­li­chem Ge­wicht der Stadt mehr oder we­ni­ger – auch in den Au­ßen­be­zie­hun­gen der Städ­te. Ein gro­ßer Teil von ih­nen be­stimm­te die Po­li­tik ih­rer In­ter­es­sen­ver­bän­de, des Rhei­ni­schen, Preu­ßi­schen und Deut­schen Städ­te­ta­ges. Ei­ne Viel­zahl von Man­da­ten in Vor­stän­den, Auf­sichts- und Ver­wal­tungs­rä­ten aus per­sön­li­chen Mo­ti­ven, Re­prä­sen­ta­ti­ons­zwe­cken oder zur Ver­tre­tung städ­ti­scher In­ter­es­sen in Ver­län­ge­rung der in­ner­städ­ti­schen Po­li­tik be­för­der­te ih­re Ein­fluss­mög­lich­kei­ten auf al­len po­li­ti­schen Ebe­nen der Wei­ma­rer Re­pu­blik. In die­sem Netz von per­sön­li­chen Ver­bin­dun­gen von Ober­bür­ger­meis­tern hat­ten die Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lun­gen der rhei­ni­schen Groß­städ­te nur dann ei­ne Chan­ce auf dau­er­haf­ten Ein­fluss, wenn meh­re­re Frak­tio­nen in ih­nen sich zu sta­bi­len Be­schluss­mehr­hei­ten zu­sam­men­fan­den. Ähn­lich wie der Reichs­tag und der Land­tag wa­ren auch sie von ei­ner ex­trem star­ken Zer­split­te­rung und Aus­wei­tung des Par­tei­en­spek­trums be­trof­fen. Hier hat­te das ka­tho­li­sche Zen­trum oft ei­ne ent­schei­den­de Schlüs­sel­po­si­ti­on in­ne. Vie­le Stadt­ver­ord­ne­te ver­hiel­ten sich gleich klei­nen Ge­schwis­tern der gro­ßen Po­li­ti­ker in Reich und Preu­ßen. Ei­ni­ge stan­den un­ter der Vor­mund­schaft ih­rer Par­tei­zen­tra­len wie die Ver­fas­sungs­fein­de der KPD und NS­DAP. Die Op­tio­nen der po­li­ti­schen Ge­stal­tung im Amt des rhei­ni­schen Ober­bür­ger­meis­ters au­ßer­halb des Kerns der Kom­mu­nal­ver­fas­sung hin­gen ma­ß­geb­lich von den Cha­rak­te­ren der Amts­in­ha­ber und ih­ren Am­bi­tio­nen ab, wel­che sehr un­gleich ver­teilt wa­ren. Der obers­te Re­prä­sen­tant ei­ner rhei­ni­schen Groß­stadt galt aber grund­sätz­lich als prä­des­ti­niert für wei­te­re Äm­ter und Auf­ga­ben mit Be­för­de­rungs­ei­gen­schaft, wenn er über meh­re­re Jah­re ei­ni­ger­ma­ßen er­folg­reich das kom­ple­xe Ge­bil­de ei­ner rhei­ni­schen Groß­stadt von un­ter Um­stän­den meh­re­ren hun­dert­tau­send Ein­woh­nern ge­führt hat­te.

Reichspräsident Paul von Hindenburg und der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (rechts) nehmen am 21.3.1926 an den offiziellen Feierlichkeiten anlässlich des Abzugs von Besatzungstruppen aus dem Rheinland teil. (Rheinisches Bildarchiv)

 

Der Duis­bur­ger Ober­bür­ger­meis­ter Dr. Karl Jar­res kan­di­dier­te aus­sichts­reich für das Amt des Reichs­prä­si­den­ten. Sein Kol­le­ge in Es­sen, Bracht, über­nahm in der Fol­ge des Pa­pen­schen Staats­streichs in Preu­ßen die un­glück­se­li­ge Auf­ga­be ei­nes Reichs­kom­mis­sars für das macht­vol­le In­nen­mi­nis­te­ri­um in Ber­lin. Der Ober­bür­ger­meis­ter der grö­ß­ten rhei­ni­schen Stadt Köln, Dr. Kon­rad Ade­nau­er, war ein Vir­tuo­se im po­li­ti­schen Netz­werk von Staat und ka­tho­li­scher Zen­trums­par­tei in Reich und Preu­ßen. Als Prä­si­dent des Preu­ßi­schen Staats­ra­tes war er ei­ner der drei Re­prä­sen­tan­ten des grö­ß­ten deut­schen Lan­des. Für das Amt des Reichs­kanz­lers war er im Ge­spräch.

Die viel län­ge­re Wahl­pe­ri­ode der Ober­bür­ger­meis­ter im Ver­gleich zu den Stadt­ver­ord­ne­ten der Par­tei­en ver­mit­tel­te den Ein­druck ei­ner per­so­nel­len Kon­ti­nui­tät und Iden­ti­tät in die­sem Amt, für die die Be­zeich­nung „Stadt­kö­ni­ge“ durch­aus zu­tref­fend ist. Die­se Ei­gen­schaf­ten fie­len im Ge­gen­satz zur Kurz­le­big­keit der Reichs­re­gie­run­gen be­son­ders auf. Für al­le Ober­bür­ger­meis­ter kann man be­haup­ten, dass es sich um selbst­be­wuss­te Per­sön­lich­kei­ten han­del­te, die das be­reit lie­gen­de In­stru­men­ta­ri­um der rhei­ni­schen Bür­ger­meis­ter­ver­fas­sung zu nut­zen wuss­ten. Die Spit­ze öf­fent­lich ar­ti­ku­lier­ten Selbst­be­wusst­seins war die Recht­fer­ti­gung Ade­nau­ers für sein über­di­men­sio­nier­tes Ge­halt, das so­gar das des Reichs­kanz­lers über­stieg. Es wa­ren aus­schlie­ß­lich Män­ner in die höchs­ten Äm­ter der Städ­te ge­kom­men, die ei­ne klas­si­sche Lauf­bahn als preu­ßi­sche Ver­wal­tungs­ju­ris­ten im Kai­ser­reich be­gon­nen hat­ten. Sie wa­ren in ih­rer Aus­bil­dungs­zeit vom Rechts­po­si­ti­vis­mus und dem Ver­ständ­nis ei­ner Selbst­ver­wal­tung der Städ­te un­ter der preu­ßi­schen Mon­ar­chie ge­prägt. Ih­re Ver­bun­den­heit mit dem tra­dier­ten Rechts­ver­ständ­nis drück­te sich in ei­ner ge­wis­sen, ge­le­gent­lich so­gar of­fen­sicht­li­chen, Dis­tanz zum Viel­par­tei­en­sys­tem der Wei­ma­rer De­mo­kra­tie aus. Nach ei­nem Ju­ra­stu­di­um, das meis­tens noch um die Pro­mo­ti­on zum Dr. jur. er­gänzt wur­de, er­reich­ten sie nach dem Ers­ten und Zwei­ten Ju­ris­ti­schen Staats­ex­amen die Be­fä­hi­gung zum Be­am­ten für den hö­he­ren Ver­wal­tungs­dienst. Sie be­gan­nen die Kar­rie­ren in klei­ne­ren und mitt­le­ren Stadt­ver­wal­tun­gen oder über­nah­men Ein­stiegs­stel­len in Groß­städ­ten, wur­den zu Bei­ge­ord­ne­ten für gro­ße be­zie­hungs­wei­se ein­fluss­rei­che Sach­ge­bie­te wie Fi­nan­zen oder öf­fent­li­che Si­cher­heit und Recht be­för­dert und wa­ren dann ers­te Aspi­ran­ten auf den Chef­pos­ten, wenn der Amts­vor­gän­ger aus dem Dienst schied. Po­li­tisch stan­den fast al­le Ober­bür­ger­meis­ter eher rechts von der Mit­te und lie­ßen kei­nen Zwei­fel an ih­rer Loya­li­tät zum Wei­ma­rer Staat auf­kom­men. Die rhei­ni­schen Ka­tho­li­ken un­ter ih­nen wa­ren na­he­lie­gend in der Zen­trums­par­tei. Die evan­ge­li­schen Ober­bür­ger­meis­ter ge­hör­ten der kon­ser­va­tiv-na­tio­na­len DNVP, der rechts­li­be­ra­len DVP oder aus­nahms­wei­se der links­li­be­ra­len DDP an. We­gen ih­rer her­aus­ra­gen­den Be­deu­tung für die Kom­mu­nal­po­li­tik in den Jah­ren der Wirt­schafts- und Staats­kri­se sind für die sechs rhei­ni­schen Groß­städ­te mit mehr als 200.000 Ein­woh­nern nach der kom­mu­na­len Neu­ord­nung im Jahr 1929 zu nen­nen:

Düs­sel­dorf:  Dr. Ro­bert Lehr (1883-1956, Amts­zeit 1924-1933),

Duis­burg (-Ham­born):  Dr. Karl Jar­res (l1874-1951, Amts­zei­ten 1914-1923 und 1925-1933),

Es­sen:  Franz Bracht (1877-1933, Amts­zeit 1924-1932),

Köln:  Dr. Kon­rad Ade­nau­er (1876-1967, Amts­zeit 1917-1933),

Karl Jarres, Porträtfoto. (Stadtarchiv Duisburg)

 

Glad­bach-Rhe­ydt:  Dr. Jo­han­nes Hand­schu­ma­cher (1887-1957, Amts­zeit 1930-1933),

Wup­per­tal:  Dr. Paul Hart­mann (1869-1942, Amts­zeit 1929-1931) un­d Ju­li­us Fried­rich (1883-1977, Amts­zeit 1931-1937).

Nicht nur das Amt des Ober­bür­ger­meis­ters im Rhein­land, son­dern auch das Ver­hält­nis zwi­schen den Städ­ten und der staat­li­chen Kom­mu­nal­auf­sicht ließ ganz kon­kret den Spruch „Staats­recht geht, Ver­wal­tungs­recht bleib­t“ Wirk­lich­keit wer­den. Die Staats­auf­sicht über die Städ­te und Ge­mein­den in Preu­ßen be­rief sich so­gar auf das All­ge­mei­ne Land­recht für die Preu­ßi­schen Staa­ten vom 5.2.1794 (ALR) aus dem „auf­ge­klär­ten Ab­so­lu­tis­mus“, des­sen Grund­la­gen wäh­rend der Re­gie­rungs­zeit Kö­nig Fried­richs II. von Preu­ßen (1712-1786; Re­gie­rungs­zeit 1740-1786) ge­schaf­fen wor­den wa­ren. Die­se Vor­schrift des ALR stell­te sich durch ih­ren un­be­stimm­ten und dehn­ba­ren In­halt als her­vor­ra­gend fle­xi­bles In­stru­ment ju­ris­tisch be­grün­de­ter Le­gi­ti­mie­rung von Ein­grif­fen in die Kom­mu­nal­po­li­tik her­aus. Was wa­ren denn nun „Miß­bräu­che und Män­gel“ oh­ne Kon­kre­ti­sie­run­gen und was „zweck­mä­ßi­ge Mit­tel“ im Sin­ne von § 191 II. Teil 6. Ti­tel ALR? Das blieb ju­ris­tisch um­strit­ten.

War das Kom­mu­nal­ver­fas­sungs­recht in Preu­ßen von Kon­ti­nui­tät be­stimmt, so gab es aber ei­ne fun­da­men­ta­le Neue­rung durch die Re­for­men des Reichs­fi­nanz­mi­nis­ters Mat­thi­as Erz­ber­ger (1875-1921, Amts­zeit 1919-1920). Ein Ver­bund- und Zu­wei­sungs­sys­tem des Reichs trat an die Stel­le der Län­der­kom­pe­ten­zen. Das Reich über­nahm die Fi­nanz­ver­wal­tung bis zum Fi­nanz­amt vor Ort. Im End­ef­fekt wur­den die Län­der zu fi­nanz­po­li­ti­schen „Kost­gän­gern des Reichs“. Auf die­sem We­ge ge­lang der Reichs­po­li­tik ei­ne Steue­rung der Kom­mu­nal­po­li­tik der Städ­te.

4. Die kommunale Neuordnung 1929

Ein ein­schnei­den­der Fak­tor für die Kom­mu­nal­po­li­tik im Re­gie­rungs­be­zirk Düs­sel­dorf wur­de die ter­ri­to­ria­le Neu­ord­nung der kreis­frei­en Groß­städ­te und Land­krei­se. Die Ge­biets­än­de­run­gen tra­ten am 1.8.1929 in Kraft. Den Groß­städ­ten ge­lan­gen zum Teil be­trächt­li­che Ge­biets­ge­win­ne auf Kos­ten der al­ten Land­krei­se. Be­nach­bar­te Groß­städ­te wie Duis­burg und Ham­born oder Bar­men und El­ber­feld wur­den zu den Bin­de­strich­ein­hei­ten „Duis­burg-Ham­born“ (1935 um­be­nannt in „Duis­bur­g“) und „Bar­men-El­ber­fel­d“ (1930 um­be­nannt in „Wup­per­tal“) zu­sam­men­ge­schlos­sen. Im letz­ten Fall ka­men noch drei wei­te­re klein­städ­ti­sche Kom­mu­nen hin­zu. „Glad­bach-Rhe­ydt“ war ei­ne span­nungs­rei­che Zwangs­ehe von zwei ri­va­li­sie­ren­den Nach­barn mit sehr un­ter­schied­li­chen Kul­tu­ren, die 1933 von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten, vor al­lem auf In­itia­ti­ve des ge­bür­ti­gen Rhe­ydters und neu­en Pro­pa­gan­da­mi­nis­ters Dr. Jo­seph Go­eb­bels nach nur vier Jah­ren Dau­er be­reits 1933 ge­schie­den wur­de. Was sich nach 1929 un­ter dem Na­men „Es­sen“ ver­sam­mel­te, wa­ren ne­ben der be­herr­schen­den al­ten Stadt Es­sen mit ei­nem Be­völ­ke­rungs­an­teil von fast 75 Pro­zent noch sie­ben Kom­mu­nen, de­ren Ein­woh­ner­zah­len zwi­schen 11.500 und 34.000 la­gen. Es lässt sich nach­voll­zie­hen, wel­che Ma­nage­ment­qua­li­tä­ten von den Ober­bür­ger­meis­tern, Bei­ge­ord­ne­ten, Amts- und Be­triebs­lei­tern ab­ver­langt wur­den, um die vie­len ver­schie­de­nen Kul­tu­ren in Po­li­tik und Ver­wal­tung zu ei­nem har­mo­ni­schen und ef­fi­zi­en­ten neu­en Ge­mein­we­sen zu­sam­men­zu­fü­gen. Nur Düs­sel­dorf hat­te mit der Ein­ge­mein­dung der In­dus­trie­ge­mein­de Ben­rath ei­ne re­la­tiv ein­fach zu be­wäl­ti­gen­de Auf­ga­be der Neu­or­ga­ni­sa­ti­on der Ver­wal­tung, die sich da­zu auch noch als äu­ßerst lu­kra­ti­ve Steu­er­quel­le ent­pupp­te. Al­ler­dings wa­ren die ur­sprüng­lich am­bi­tio­nier­ten Ein­ge­mein­dungs­plä­ne Düs­sel­dorfs bis auf die­se Aus­nah­me ge­schei­tert.

5. Die lokale Wirtschafts- und Sozialstruktur

Ein sehr ma­ß­geb­li­cher Ein­fluss­fak­tor auf die Ge­stal­tung der Kom­mu­nal­po­li­tik ist die lo­ka­le Wirt­schafts- und So­zi­al­struk­tur. Es liegt in ih­rem We­sen, dass sie sich in we­ni­gen Jah­ren nicht fun­da­men­tal ver­bes­sern lässt, son­dern nur lang­fris­tig mit viel Mü­he und Auf­wand. Die an­ge­nom­me­nen po­si­ti­ven Ef­fek­te ei­ner sol­chen Wirt­schafts­po­li­tik, wel­che sich in ei­ner ver­bes­ser­ten fi­nan­zi­el­len La­ge der Stadt aus­drü­cken, tre­ten auch nur ganz all­mäh­lich ein. In ei­nem Ver­gleich zwi­schen den sechs rhei­ni­schen Groß­städ­ten in der Grö­ßen­klas­se von mehr als 200.000 Ein­woh­nern wer­den hier gra­vie­ren­de Un­ter­schie­de deut­lich, wel­che sich in der Welt­wirt­schafts­kri­se prä­gend auf die Ver­hält­nis­se in die­sen Städ­ten aus­wir­ken soll­ten. Als Er­geb­nis las­sen sich die sechs Städ­te in drei Paa­re mit ähn­li­chen Ver­hält­nis­sen un­ter­tei­len.

Johannes Handschumacher, Porträtfoto. (Stadtarchiv Mönchengladbach)

 

In Duis­burg (-Ham­born) und Es­sen be­herrsch­ten die Groß­be­trie­be des Berg­baus und der Ei­sen- und Stahl­in­dus­trie die Wirt­schaft. Ih­re Ar­beits­plät­ze mit sehr gu­ten Löh­nen spra­chen vor al­lem ge­sun­de, jun­ge Män­ner an. Um­ge­kehrt be­deu­te­te dies, dass es ei­ne be­son­ders nied­ri­ge Er­werbs­quo­te der Frau­en und ei­ne re­la­tiv ge­rin­ge Er­werbs­tä­tig­keit un­ter al­len Er­werbs­fä­hi­gen gab. Die Er­werbs­quo­te al­ler weib­li­chen Er­werbs­per­so­nen in den Be­rufs­zäh­lun­gen 1925 und 1933 lag in den Ruhr­ge­biets­städ­ten Duis­burg (-Ham­born) und Es­sen zwi­schen rund 16 bis 19 Pro­zent, in den Dienst­leis­tungs­zen­tren Düs­sel­dorf und Köln zwi­schen 25 und 28 Pro­zent und in den Tex­til­städ­ten zwi­schen 29 und 32 Pro­zent. Selbst bei den An­tei­len der Ge­schlech­ter an der ge­sam­ten Wohn­be­völ­ke­rung wirk­ten sich die spe­zi­fi­schen Struk­tur­be­din­gun­gen aus. In Duis­burg (-Ham­born) lag der An­teil der Män­ner so­gar ganz un­ge­wöhn­lich bei fast 52 (1925) be­zie­hungs­wei­se 50 Pro­zent (1933). Aber auch in den bei­den Groß­städ­ten am Rhein, Düs­sel­dorf und Köln, die be­vor­zug­te Stand­or­te für Wirt­schafts­ver­wal­tun­gen und Ver­bän­de, Ban­ken, Ver­si­che­run­gen und Han­dels­kon­zer­ne wa­ren, hat­te die Pro­duk­ti­ons­gü­ter­in­dus­trie ei­ne gro­ße Be­deu­tung für die Be­schäf­ti­gung von Ar­beits­kräf­ten.

Industrieanlagen in Duisburg-Hochfeld, 1910. (Stadtarchiv Duisburg)

 

In die­sen bei­den „Dienst­leis­tungs­zen­tren“ gab es aber ein at­trak­ti­ves An­ge­bot von Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen für Frau­en als An­ge­stell­te.  Wie­der­um völ­lig an­de­rer war die Si­tua­ti­on in Wup­per­tal und in Glad­bach-Rhe­ydt als gro­ße Stand­or­ten der Tex­til- und Be­klei­dungs­in­dus­trie. Ex­trem ein­sei­tig wa­ren die Ver­hält­nis­se in Glad­bach-Rhe­ydt, wo zwei Drit­tel der Ar­beit­neh­mer im Tex­til- und Be­klei­dungs­ge­wer­be be­schäf­tigt wa­ren. Im Ver­gleich da­zu wur­de die La­ge Wup­per­tals durch sei­ne Rol­le als ber­gi­sches Dienst­leis­tungs- und Han­dels­zen­trum ab­ge­mil­dert.

Die Ein­kom­mens­ver­hält­nis­se in den sechs Städ­ten hin­gen na­tür­li­cher­wei­se stark von den Löh­nen und Ge­häl­tern in den do­mi­nie­ren­den Wirt­schafts­bran­chen ab. In den bei­den Dienst­leis­tungs­zen­tren Düs­sel­dorf und Köln konn­ten die höchs­ten Ein­kom­men er­zielt wer­den. In der Mit­te der Städ­te über 200.000 Ein­woh­nern la­gen die Mon­tan­zen­tren Duis­burg (-Ham­born) und Es­sen. Den Schluss der Ein­kom­mens­ska­la bil­de­ten die Tex­til- und Be­klei­dungs­zen­tren Glad­bach-Rhe­ydt und Wup­per­tal mit den re­la­tiv nied­ri­gen Löh­nen in den dor­ti­gen Bran­chen. Auch bei der Ver­an­la­gung zur Ver­mö­gen­steu­er 1928 er­ga­ben sich deut­li­che Un­ter­schie­de zwi­schen den Städ­ten. In Duis­burg (-Ham­born) und Es­sen lag der An­teil der Steu­er­pflich­ti­gen deut­lich nied­ri­ger als in den üb­ri­gen Städ­ten.

Mönchengladbacher Textilschule, gegründet 1901. (Stadtarchiv Mönchengladbach)

 

Ein Blick auf die de­mo­gra­phi­schen Ver­hält­nis­se in den rhei­ni­schen Groß­städ­ten er­gibt im Un­ter­schied zur Wirt­schafts­struk­tur kei­ne Drei­tei­lung, son­dern ei­ne Auf­tei­lung in zwei Städ­te­grup­pen: Duis­burg(-Ham­born), Es­sen und Glad­bach-Rhe­ydt wie­sen ei­ne ziem­lich jun­ge Be­völ­ke­rung mit grö­ße­ren Fa­mi­li­en und Haus­hal­ten auf. Düs­sel­dorf, Köln und Wup­per­tal hat­ten ei­ne ver­gleichs­wei­se äl­te­re Ein­woh­ner­schaft mit klei­ne­ren Fa­mi­li­en und Haus­hal­ten. Die struk­tu­rel­len Un­ter­schie­de zwi­schen den Städ­ten bil­de­ten sich ent­spre­chend in ih­ren fi­nan­zi­el­len Ver­hält­nis­sen ab, wie sie sich zum Bei­spiel in den Steu­er­kraft­mess­zah­len aus­drück­ten. Die oben nach wirt­schaft­li­chen Merk­ma­len vor­ge­nom­me­ne Drei­tei­lung der sechs rhei­ni­schen Groß­städ­te über 200.000 Ein­woh­ner traf so­wohl auf die Steu­er­kraft im All­ge­mei­nen als auch auf die Ge­mein­de­steu­ern im Be­son­de­ren zu. Düs­sel­dorf und Köln stan­den im Rech­nungs­jahr 1930/1931 (1.4.1930-31.3.1931) am bes­ten da und be­hiel­ten die­se Po­si­ti­on die gan­ze Welt­wirt­schafts­kri­se hin­durch. Es folg­ten die Ruhr­ge­biets­städ­te Duis­burg (-Ham­born) und Es­sen in ei­ner mitt­le­ren La­ge, so­lan­ge die Kon­junk­tur in der Mon­tan­wirt­schaft lief. Den Schluss bil­de­ten die Zen­tren des Tex­til- und Be­klei­dungs­ge­wer­bes Glad­bach-Rhe­ydt und Wup­per­tal, wo sich be­reits früh ei­ne bran­chen­spe­zi­fi­sche Kri­se aus­wirk­te. 

Le­sen Sie wei­ter: Die rhei­ni­schen Groß­städ­te wäh­rend der Welt­wirt­schafts­kri­se 1929-1933 – Ver­lauf der Welt­wirt­schafts­kri­se  

Eröffnung der Gruga in Essen, 1929. (Bundesarchiv, Bild 102-08024)

 
Zitationshinweis

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Weiß, Lothar, Die rheinischen Großstädte während der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 (Teil I – Rahmenbedingungen und Ausgangslage vor der Krise), in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-rheinischen-grossstaedte-waehrend-der-weltwirtschaftskrise-1929-1933-teil-i-%25E2%2580%2593-rahmenbedingungen-und-ausgangslage-vor-der-krise/DE-2086/lido/57d133b64d62c1.00653753 (abgerufen am 11.11.2024)