Die rheinischen Großstädte während der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 (Teil I – Rahmenbedingungen und Ausgangslage vor der Krise)
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1. Einleitung
Die so genannte „Weltwirtschaftskrise“ oder „Große Depression“ in den Jahren 1929 bis 1932/1933 ist unter temporärem Maßstab nur eine historische Episode. Ihre politische und ökonomische Wirkungsgeschichte, welche sich bis in den Anfang des 21. Jahrhunderts verfolgen lässt, gehört zu den nachhaltigsten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In der Geschichte der Theorie der Wirtschaftspolitik fand sie ihren Niederschlag in der Entwicklung einer antizyklischen Konjunkturpolitik, die nach dem Begründer, dem britischen Ökonomen John M. Keynes (1886-1946) als „Keynesianismus“ bezeichnet wird. Für die Großstädte im Rheinland sollte diese Wirtschaftskrise ganz außerordentliche und tief greifende Herausforderungen stellen. Die sechs größten unter ihnen mit mehr als 200.000 Einwohnern lagen im nördlichen Rheinland. Nach dem Stand vom 1.8.1929, als die kommunale Neuordnung für den Regierungsbezirk Düsseldorf wirksam wurde, waren dies neben Köln die Städte Düsseldorf, Duisburg-Hamborn, Essen, Gladbach-Rheydt (heute Mönchengladbach) und Wuppertal.
2. Die politischen Rahmenbedingungen im Reich und in Preußen
Die Wirtschaftskrise, auch als „Große Depression“ bezeichnet, verstärkte die Krise des Staates und der Gesellschaft in den letzten Jahren der ersten deutschen Republik und Demokratie.
Die nur kurzzeitig stabilisierte Basis der Weimarer Republik wurde wieder labil, weil ihre demokratischen und verfassungstreuen Kräfte immer mehr in die Defensive gerieten. Links- und Rechtsextreme gewannen den Zuspruch. Die zersplitterte Wählerschaft und das reine Verhältniswahlrecht produzierten ein Vielparteiensystem, das zu ständig neuen Mehrparteienkoalitionen bei der Regierungsbildung im Reich zwang. Verstärkt wurde diese Lage durch das ambivalente Verfassungsgefüge, welches sich im Amt des Reichskanzlers konzentrierte. Einerseits war der Reichskanzler grundsätzlich von einer Mehrheit der Abgeordneten im Reichstag abhängig, die ihn wählte und unterstützte. Andererseits musste er auf das Wohlwollen und Vertrauen des Reichspräsidenten als Staatsoberhaupt der Republik achten, welcher als „Ersatzkaiser“ durch verfassungsmäßig sanktionierte autokratische Entscheidungen über eine große Machtfülle verfügte. Vor allem in Fällen des tatsächlichen, angenommenen oder vorsätzlich herbeigeführten Staatsnotstandes machte der Reichspräsident ohne Weiteres vom Recht der so genannten „Notverordnungen“ nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) reichlich Gebrauch, welche de facto das Gesetzgebungsrecht der Legislative aushebelten.
Eine Vielzahl von Gründen und Motiven führte dazu, dass in den letzten Jahren der Demokratie bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme ab Ende Januar 1933 der Reichspräsident und seine Kamarilla zu den maßgeblichen Entscheidungsträgern der Republik wurden. Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847-1934, Amtszeit 1925-1934), in fairen und freien Wahlen zum Staatsoberhaupt gewählt, sollte die Sehnsucht vieler Deutscher nach geordneten und ruhigen politischen Verhältnissen durch seine Biographie als kaiserlicher Generalfeldmarschall im Ruhestand mit dem Mythos der siegreichen Schlacht von Tannenberg 1914 in Ostpreußen stillen. Zweifellos besaß er auch befriedende Qualitäten und hielt sich im Wesentlichen an den Rahmen der Verfassungsordnung. Seine Persönlichkeit und Amtsführung „über den Parteien“ entsprach sicher ebenso den Vorstellungen großer Teile der bürgerlichen Mittelschicht und der politischen und ökonomischen Elite des Landes. Aber ein überzeugter Demokrat, der sich mit Herzblut für eine pluralistische Gesellschaftsordnung einsetzte, wurde er nie.
Von einer Kontinuität der Reichsregierung konnte allerdings keine Rede sein. Der häufige Wechsel der Kanzler, Minister und politischen Beamten musste zwangsläufig die Macht der Bürokratie stärken. Die Amtszeiten der Reichskanzler waren extrem kurz, die der Reichskabinette unter ihrer Leitung noch kürzer. Die Große Koalition aus SPD, dem katholischen Zentrum, der bayerisch-katholischen BVP, der linksliberalen DDP und der rechtsliberalen DVP unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller (1876-1931, Amtszeiten 1920 und 1928-1930) amtierte mit 22 Monaten am längsten. Als sie am 27.3.1930 wegen wirtschaftspolitischer Gegensätze auseinanderbrach, war dies der Beginn der letzten Phase der Weimarer Demokratie. Es kamen nur noch Reichskanzler und Reichskabinette von Hindenburgs Gnaden zum Zuge. Tiefgründiges Verständnis für die Spezifika der Kommunalpolitik brachten sie nicht auf.
Das erste der „Präsidialkabinette“ stand unter der Leitung des Zentrumspolitikers Dr. Heinrich Brüning (1885-1970, Amtszeit 1930-1932). Es konnte sich bei seinen Entscheidungen immerhin noch auf die Tolerierungspolitik der SPD stützen. Auf eine Zusammenarbeit mit den Parlamentariern im Reichstag legten die beiden Nachfolger Brünings bis zur Kanzlerschaft Hitlers keinen Wert mehr. Dem „abgefallenen“ Zentrumspolitiker Franz von Papen (1879-1969, Amtszeit Juni -Dezember 1932) war eine Versammlung von Adelstitelträgern als „Kabinett der Barone“ wichtiger als das Votum des Reichstags für seine Politik. Sein intriganter Protektor im Umkreis des Reichspräsidenten, Generalleutnant Kurt von Schleicher (1882-1934), blieb als Reichskanzler von Dezember 1932 bis - Januar 1933 eine kaum bemerkbare historische Episode, weil sein Protegé von Papen über eine nicht mindere Ausprägung dieser Eigenschaft verfügte und ihn via Hindenburg aus dem Kanzleramt drängte. Brünings wirtschaftspolitische Maßnahmen und die Hochzinspolitik der Reichsbank unter ihren Präsidenten Dr. Hjalmar Schacht (1877-1970, Amtszeit 1923-1930 und 1933-1939) und Dr. Hans Luther (Amtszeit 1930-1933), ehemals Oberbürgermeister von Essen, welche stark vom noch frischen Trauma der Hyperinflation geprägt waren, erwiesen sich für die Wirtschaftskonjunktur insgesamt als fatal prozyklisch und vertieften den bereits im Jahr 1928 einsetzenden Abschwung. In der Innenpolitik brachten sie einen massiven Anstieg der Erwerbslosigkeit und Kurzarbeit, welcher als Katalysator der politischen Radikalisierung und Gewalttätigkeit wirkte.
Außenpolitisch machte diese Politik Eindruck. Die Reparationslasten Deutschlands aus dem Versailler Friedensvertrag wurden endlich einer Regelung mit den alliierten Siegern im „Young-Plan“ zugeführt. In der Innenpolitik scheiterte ein Volksbegehren gegen den Young-Plan, aber der Streit um ihn radikalisierte die politische Stimmung weiter. Die Kette von Reichstags-, Reichspräsidenten-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie Volksbegehren und -abstimmungen boten immer neue Anlässe mit plakativen Argumenten anstelle von nachhaltigen Konzepten Wähler zu mobilisieren. Von 1929 bis zur Ernennung Adolf Hitlers (1889-1945) zum Reichskanzler am 30.1.1933 (Amtszeit bis 1945) fanden drei Reichstagswahlen 1930 und 1932, zwei Wahlgänge für das Amt des Reichspräsidenten 1932, eine Wahl zum Preußischen Landtag 1932 und Wahlen zum Provinziallandtag der Rheinprovinz und zu den Kommunalvertretungen in Gemeinden, Städten und Landkreisen 1929 statt. Im Vergleich zu den jeweiligen früheren Wahlergebnissen trat bei den Wahlen auf dem Höhepunkt der Auswirkungen der Wirtschaftskrise im Jahr 1932 eine deutliche Radikalisierung der Wählerschaft ein. Schließlich fand sich im Reichstag nur noch eine destruktive Mehrheit aus Verfassungsfeinden. Insbesondere den Nationalsozialisten gelang es, zur letztlich bestimmenden politischen Kraft im Lande aufzusteigen.
Im Unterschied zur Reichspolitik erwies sich die politische Lage im Freistaat Preußen als außerordentlich stabil. Der demokratische Fels in der Brandung der Reichspolitik war personifiziert im sozialdemokratischen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (1872-1955, Amtszeit 1920-1952) und in den engagierten Innenministern Carl Severing (1875-1952, Amtszeiten 1920-1926 und 1930-1932) und Albert Grzesinski (1879-1947, Amtszeit 1926-1930), beide SPD, die keinen Augenblick einen Zweifel an ihrer demokratischen Gesinnung aufkommen ließen. Beide Innenminister legten gesteigerten Wert auf die Republiktreue der Polizei und der Beamtenschaft. Die von diesen einflussreichen Innenministern kommandierte Landespolizei war die mit weitem Abstand größte im Deutschen Reich und damit ein herausragender Machtfaktor, den es zu beachten galt. Allerdings gab es auch Schwierigkeiten, da nun natürlicherweise die Köpfe der Staatsbediensteten mit dem Wechsel des politischen Systems nicht einfach ausgetauscht werden konnten. Die Mehrheit von ihnen hatte die Ausbildung oder die Laufbahn bereits in der Monarchie bis 1918 begonnen. Althergebrachte Denkmuster wurden weiter eingesetzt.
Stellen für politische Beamte wie die der Regierungspräsidenten und der Oberpräsidenten der preußischen Provinzen wurden mit Persönlichkeiten besetzt, die unter Umständen nicht die Voraussetzungen für die höhere Beamtenlaufbahn erfüllten, jedoch politisch loyal waren. Hierzu gehörte im Rheinland zuerst der Düsseldorfer Regierungspräsident Karl Bergemann (SPD, 1878-1949, Amtszeit 1924-1933). Eigentlich gab es ein „Juristenmonopol“ bei der Kommunalaufsicht der Regierungspräsidenten, des Oberpräsidenten der Rheinprovinz und der Kommunalabteilung des Preußischen Ministeriums des Innern. Die Regierungspräsidenten in Aachen, Koblenz, Köln und Trier und der Oberpräsident der Rheinprovinz waren Verwaltungsjuristen, die entweder dem katholischen Zentrum oder keiner Partei angehörten. Angesichts dieser Phalanx fiel der Düsseldorfer Regierungspräsident Karl Bergemann in jeder Hinsicht auf. Bergemann hatte eine Ausbildung als Zimmerer gemacht und war vor seiner Behördenlaufbahn Gewerkschafts- und Parteifunktionär gewesen. Er gehörte als einziger unter seinen rheinischen Kollegen der SPD an wie bis 1932 sein zuständiger Minister in Berlin. Bergemann nahm sein Amt mit Gespür für die Anforderungen des größten preußischen Regierungsbezirks wahr, in dem fünf der sechs größten rheinischen Großstädte mit insgesamt fast 2,4 Millionen Einwohnern (Durchschnitt 1930) lagen.
Von kurzzeitigen Unterbrechungen abgesehen, führte der preußische Ministerpräsident Braun eine langandauernde Staatsregierung an, die von einer weitgehend harmonischen Koalition aus SPD und katholischem Zentrum, linksliberaler DDP (später DStP) und zeitweilig rechtsliberaler DVP an, die sich auf eine stabile Mehrheit im Preußischen Landtag stützte. Präsident der „zweiten Kammer“, dem Preußischen Staatsrat als Vertretung der Provinzen bei der Landesgesetzgebung und -verwaltung, war von 1921 bis 1933 der Kölner Oberbürgermeister und Zentrumspolitiker Dr. Konrad Adenauer. Ihm lag es ebenso wie der Staatsregierung fern, sich auf eine ernsthafte Zusammenarbeit mit den politischen Extremisten einzulassen. Das größte deutsche Land war aber keine „Insel der Seligen“, die sich auf Dauer der allgemeinen politischen Stimmung im Reich entziehen konnte.
Bei der Landtagswahl vom 24.4.1932 verlor wegen der schweren Verluste der SPD und der Liberalen die bisherige Koalition die Mehrheit im Landtag. Mit einem Sprung ihres Stimmenanteils von 1,8 Prozent (1928) auf 36,3 Prozent wurde die NSDAP schlagartig stärkste Partei und stellte nun den Landtagspräsidenten mit dem NSDAP-Politiker Hanns Kerrl (1887-1941, Amtszeit 1932-1933). Die KPD auf der linksextremen Seite des politischen Spektrums konnte ihren Stimmenanteil leicht steigern. Nun gab es eine negative Mehrheit im Landtag, die jede Neubildung einer Regierung verhinderte. Die bisherige Koalition unter Braun blieb zwar im Amt, allerdings nur noch geschäftsführend ohne Landtagsmehrheit. Damit hatte das größte deutsche Land eine nur vorläufige und eher instabile Regierung. Genau hier setzte nun der Hebel von Reichskanzler von Papen an, welcher auch als „Preußenschlag“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Mit seinem lebensfrohen Opportunismus, der Waghalsigkeit eines Herrenreiters und seiner Skrupellosigkeit im Umgang mit Macht und Recht konnte sich von Papen durchsetzen. Resignationserscheinungen, Überraschungseffekte und Abwägungen der Gefahr eines Bürgerkrieges bei Widerstand gegen den Staatsstreich verhinderten ein wirkungsvolles Vorgehen der verfassungsgemäßen Staatsregierung Preußens gegen die autoritäre Okkupation von Macht in Preußen. An die Stelle des Ministerpräsidenten trat von Papen als „Reichskommissar für das Land Preußen“. Die Minister wurden durch von ihm Berufene ersetzt. Unter ihnen befand sich der ehemalige Oberbürgermeister von Essen, Franz Bracht (1877-1933), der als „stellvertretender Reichskommissar für das Land Preußen“ mit der „Wahrnehmung der Geschäfte des Preußischen Ministers des Innern“ beauftragt war, um noch im selben Jahr Reichsminister ohne Geschäftsbereich und danach Reichsinnenminister zu werden. Zügig wurde ein umfangreiches Revirement von politisch einflussreichem Personal des höheren Dienstes in den Ministerien und der allgemeinen Landesverwaltung anhand von Listen in Angriff genommen. Der bisherige Ministerialdirektor der Kommunalabteilung im preußischen Innenministerium und damit höchste Laufbahnbeamte der Staatsaufsicht über die Städte, Kreise und Gemeinden, Dr. Victor von Leyden (1880-1963, Amtszeit 1926-1932), wurde gegen seinen ehrgeizigen Mitarbeiter Dr. Friedrich Karl Surén (1888-1969, Amtszeit 1932-1944) ausgetauscht, welcher sich bald als rechtskonservativer Praktiker mit einem autoritären Staatsverständnis erweisen sollte. Damit stand das größte deutsche Land und seine Kommunalaufsicht unter der direkten Kuratel der Reichspolitik.
3. Die juristischen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume der Kommunalpolitik
Für die rheinischen Großstädte galt die Rheinische Städteordnung vom 15.5.1856 als Kommunalverfassung. Das Dreiklassenwahlrecht der preußischen Monarchie unter Ausschluss der Frauen war nach der Novemberrevolution 1918 durch die provisorische Regierung der Volksbeauftragten 1919 zugunsten der Gleichheit aller Stimmen und des Frauenstimmrechts ersetzt worden. Die ganz konsequente Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes bei der Umwandlung der abgegebenen gültigen Stimme in Mandate in den Stadtverordnetenversammlungen führte im Zusammenhang mit der extremen Zersplitterung der politischen Interessen zu einer Parteienvielfalt, die sich mit einiger Mühe zu konstruktiven dauerhaften Mehrheiten für politische Willensäußerungen zusammenfand. Darüber hinaus war das Kommunalrecht von Kontinuität bestimmt.
Hier ist auf die Wahlbeamten an der Spitze der Kommunalverwaltung hinzuweisen. Zwar war die alte „Honoratiorenherrlichkeit“ vorbei, der Parteienproporz griff um sich und führte zu einer Demokratisierung und sozialen Differenzierung der politischen Leitung der Stadt. Das Amt des Oberbürgermeisters blieb aber unangetastet. Von der Stadtverordnetenversammlung auf zwölf Jahre gewählt und vom Innenminister in Berlin als oberste Kommunalaufsicht bestätigt, waren die Oberbürgermeister nach der Rheinischen Städteordnung die zentralen Machtfiguren in den rheinischen Großstädten. Ohne diese Oberbürgermeister lief in den Städten praktisch nichts Wesentliches. Sie saßen allen entscheidenden städtischen Gremien und Körperschaften vor oder ließen sich von weisungsgebundenen Beamten vertreten. Sie waren oberste Chefs von unter Umständen mehreren tausend städtischen Beamten, Angestellten und Arbeitern, sie leiteten die Sitzungen der „Stadtparlamente“ und bestimmten deren Tagesordnungen und Entscheidungen maßgeblich, sie dirigierten eine Vielzahl von Betrieben und Gesellschaften wie Sparkassen und Stadtwerke und sie waren die obersten Repräsentanten ihrer Städte.
Die innerstädtische Machtfülle der rheinischen Oberbürgermeister fand ihre logische Fortsetzung in den politischen Einflussmöglichkeiten, die ihnen – je nach Persönlichkeit und je nach Größe und wirtschaftlichem Gewicht der Stadt mehr oder weniger – auch in den Außenbeziehungen der Städte. Ein großer Teil von ihnen bestimmte die Politik ihrer Interessenverbände, des Rheinischen, Preußischen und Deutschen Städtetages. Eine Vielzahl von Mandaten in Vorständen, Aufsichts- und Verwaltungsräten aus persönlichen Motiven, Repräsentationszwecken oder zur Vertretung städtischer Interessen in Verlängerung der innerstädtischen Politik beförderte ihre Einflussmöglichkeiten auf allen politischen Ebenen der Weimarer Republik. In diesem Netz von persönlichen Verbindungen von Oberbürgermeistern hatten die Stadtverordnetenversammlungen der rheinischen Großstädte nur dann eine Chance auf dauerhaften Einfluss, wenn mehrere Fraktionen in ihnen sich zu stabilen Beschlussmehrheiten zusammenfanden. Ähnlich wie der Reichstag und der Landtag waren auch sie von einer extrem starken Zersplitterung und Ausweitung des Parteienspektrums betroffen. Hier hatte das katholische Zentrum oft eine entscheidende Schlüsselposition inne. Viele Stadtverordnete verhielten sich gleich kleinen Geschwistern der großen Politiker in Reich und Preußen. Einige standen unter der Vormundschaft ihrer Parteizentralen wie die Verfassungsfeinde der KPD und NSDAP. Die Optionen der politischen Gestaltung im Amt des rheinischen Oberbürgermeisters außerhalb des Kerns der Kommunalverfassung hingen maßgeblich von den Charakteren der Amtsinhaber und ihren Ambitionen ab, welche sehr ungleich verteilt waren. Der oberste Repräsentant einer rheinischen Großstadt galt aber grundsätzlich als prädestiniert für weitere Ämter und Aufgaben mit Beförderungseigenschaft, wenn er über mehrere Jahre einigermaßen erfolgreich das komplexe Gebilde einer rheinischen Großstadt von unter Umständen mehreren hunderttausend Einwohnern geführt hatte.
Der Duisburger Oberbürgermeister Dr. Karl Jarres kandidierte aussichtsreich für das Amt des Reichspräsidenten. Sein Kollege in Essen, Bracht, übernahm in der Folge des Papenschen Staatsstreichs in Preußen die unglückselige Aufgabe eines Reichskommissars für das machtvolle Innenministerium in Berlin. Der Oberbürgermeister der größten rheinischen Stadt Köln, Dr. Konrad Adenauer, war ein Virtuose im politischen Netzwerk von Staat und katholischer Zentrumspartei in Reich und Preußen. Als Präsident des Preußischen Staatsrates war er einer der drei Repräsentanten des größten deutschen Landes. Für das Amt des Reichskanzlers war er im Gespräch.
Die viel längere Wahlperiode der Oberbürgermeister im Vergleich zu den Stadtverordneten der Parteien vermittelte den Eindruck einer personellen Kontinuität und Identität in diesem Amt, für die die Bezeichnung „Stadtkönige“ durchaus zutreffend ist. Diese Eigenschaften fielen im Gegensatz zur Kurzlebigkeit der Reichsregierungen besonders auf. Für alle Oberbürgermeister kann man behaupten, dass es sich um selbstbewusste Persönlichkeiten handelte, die das bereit liegende Instrumentarium der rheinischen Bürgermeisterverfassung zu nutzen wussten. Die Spitze öffentlich artikulierten Selbstbewusstseins war die Rechtfertigung Adenauers für sein überdimensioniertes Gehalt, das sogar das des Reichskanzlers überstieg. Es waren ausschließlich Männer in die höchsten Ämter der Städte gekommen, die eine klassische Laufbahn als preußische Verwaltungsjuristen im Kaiserreich begonnen hatten. Sie waren in ihrer Ausbildungszeit vom Rechtspositivismus und dem Verständnis einer Selbstverwaltung der Städte unter der preußischen Monarchie geprägt. Ihre Verbundenheit mit dem tradierten Rechtsverständnis drückte sich in einer gewissen, gelegentlich sogar offensichtlichen, Distanz zum Vielparteiensystem der Weimarer Demokratie aus. Nach einem Jurastudium, das meistens noch um die Promotion zum Dr. jur. ergänzt wurde, erreichten sie nach dem Ersten und Zweiten Juristischen Staatsexamen die Befähigung zum Beamten für den höheren Verwaltungsdienst. Sie begannen die Karrieren in kleineren und mittleren Stadtverwaltungen oder übernahmen Einstiegsstellen in Großstädten, wurden zu Beigeordneten für große beziehungsweise einflussreiche Sachgebiete wie Finanzen oder öffentliche Sicherheit und Recht befördert und waren dann erste Aspiranten auf den Chefposten, wenn der Amtsvorgänger aus dem Dienst schied. Politisch standen fast alle Oberbürgermeister eher rechts von der Mitte und ließen keinen Zweifel an ihrer Loyalität zum Weimarer Staat aufkommen. Die rheinischen Katholiken unter ihnen waren naheliegend in der Zentrumspartei. Die evangelischen Oberbürgermeister gehörten der konservativ-nationalen DNVP, der rechtsliberalen DVP oder ausnahmsweise der linksliberalen DDP an. Wegen ihrer herausragenden Bedeutung für die Kommunalpolitik in den Jahren der Wirtschafts- und Staatskrise sind für die sechs rheinischen Großstädte mit mehr als 200.000 Einwohnern nach der kommunalen Neuordnung im Jahr 1929 zu nennen:
Düsseldorf: Dr. Robert Lehr (1883-1956, Amtszeit 1924-1933),
Duisburg (-Hamborn): Dr. Karl Jarres (l1874-1951, Amtszeiten 1914-1923 und 1925-1933),
Essen: Franz Bracht (1877-1933, Amtszeit 1924-1932),
Köln: Dr. Konrad Adenauer (1876-1967, Amtszeit 1917-1933),
Gladbach-Rheydt: Dr. Johannes Handschumacher (1887-1957, Amtszeit 1930-1933),
Wuppertal: Dr. Paul Hartmann (1869-1942, Amtszeit 1929-1931) und Julius Friedrich (1883-1977, Amtszeit 1931-1937).
Nicht nur das Amt des Oberbürgermeisters im Rheinland, sondern auch das Verhältnis zwischen den Städten und der staatlichen Kommunalaufsicht ließ ganz konkret den Spruch „Staatsrecht geht, Verwaltungsrecht bleibt“ Wirklichkeit werden. Die Staatsaufsicht über die Städte und Gemeinden in Preußen berief sich sogar auf das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten vom 5.2.1794 (ALR) aus dem „aufgeklärten Absolutismus“, dessen Grundlagen während der Regierungszeit König Friedrichs II. von Preußen (1712-1786; Regierungszeit 1740-1786) geschaffen worden waren. Diese Vorschrift des ALR stellte sich durch ihren unbestimmten und dehnbaren Inhalt als hervorragend flexibles Instrument juristisch begründeter Legitimierung von Eingriffen in die Kommunalpolitik heraus. Was waren denn nun „Mißbräuche und Mängel“ ohne Konkretisierungen und was „zweckmäßige Mittel“ im Sinne von § 191 II. Teil 6. Titel ALR? Das blieb juristisch umstritten.
War das Kommunalverfassungsrecht in Preußen von Kontinuität bestimmt, so gab es aber eine fundamentale Neuerung durch die Reformen des Reichsfinanzministers Matthias Erzberger (1875-1921, Amtszeit 1919-1920). Ein Verbund- und Zuweisungssystem des Reichs trat an die Stelle der Länderkompetenzen. Das Reich übernahm die Finanzverwaltung bis zum Finanzamt vor Ort. Im Endeffekt wurden die Länder zu finanzpolitischen „Kostgängern des Reichs“. Auf diesem Wege gelang der Reichspolitik eine Steuerung der Kommunalpolitik der Städte.
4. Die kommunale Neuordnung 1929
Ein einschneidender Faktor für die Kommunalpolitik im Regierungsbezirk Düsseldorf wurde die territoriale Neuordnung der kreisfreien Großstädte und Landkreise. Die Gebietsänderungen traten am 1.8.1929 in Kraft. Den Großstädten gelangen zum Teil beträchtliche Gebietsgewinne auf Kosten der alten Landkreise. Benachbarte Großstädte wie Duisburg und Hamborn oder Barmen und Elberfeld wurden zu den Bindestricheinheiten „Duisburg-Hamborn“ (1935 umbenannt in „Duisburg“) und „Barmen-Elberfeld“ (1930 umbenannt in „Wuppertal“) zusammengeschlossen. Im letzten Fall kamen noch drei weitere kleinstädtische Kommunen hinzu. „Gladbach-Rheydt“ war eine spannungsreiche Zwangsehe von zwei rivalisierenden Nachbarn mit sehr unterschiedlichen Kulturen, die 1933 von den Nationalsozialisten, vor allem auf Initiative des gebürtigen Rheydters und neuen Propagandaministers Dr. Joseph Goebbels nach nur vier Jahren Dauer bereits 1933 geschieden wurde. Was sich nach 1929 unter dem Namen „Essen“ versammelte, waren neben der beherrschenden alten Stadt Essen mit einem Bevölkerungsanteil von fast 75 Prozent noch sieben Kommunen, deren Einwohnerzahlen zwischen 11.500 und 34.000 lagen. Es lässt sich nachvollziehen, welche Managementqualitäten von den Oberbürgermeistern, Beigeordneten, Amts- und Betriebsleitern abverlangt wurden, um die vielen verschiedenen Kulturen in Politik und Verwaltung zu einem harmonischen und effizienten neuen Gemeinwesen zusammenzufügen. Nur Düsseldorf hatte mit der Eingemeindung der Industriegemeinde Benrath eine relativ einfach zu bewältigende Aufgabe der Neuorganisation der Verwaltung, die sich dazu auch noch als äußerst lukrative Steuerquelle entpuppte. Allerdings waren die ursprünglich ambitionierten Eingemeindungspläne Düsseldorfs bis auf diese Ausnahme gescheitert.
5. Die lokale Wirtschafts- und Sozialstruktur
Ein sehr maßgeblicher Einflussfaktor auf die Gestaltung der Kommunalpolitik ist die lokale Wirtschafts- und Sozialstruktur. Es liegt in ihrem Wesen, dass sie sich in wenigen Jahren nicht fundamental verbessern lässt, sondern nur langfristig mit viel Mühe und Aufwand. Die angenommenen positiven Effekte einer solchen Wirtschaftspolitik, welche sich in einer verbesserten finanziellen Lage der Stadt ausdrücken, treten auch nur ganz allmählich ein. In einem Vergleich zwischen den sechs rheinischen Großstädten in der Größenklasse von mehr als 200.000 Einwohnern werden hier gravierende Unterschiede deutlich, welche sich in der Weltwirtschaftskrise prägend auf die Verhältnisse in diesen Städten auswirken sollten. Als Ergebnis lassen sich die sechs Städte in drei Paare mit ähnlichen Verhältnissen unterteilen.
In Duisburg (-Hamborn) und Essen beherrschten die Großbetriebe des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie die Wirtschaft. Ihre Arbeitsplätze mit sehr guten Löhnen sprachen vor allem gesunde, junge Männer an. Umgekehrt bedeutete dies, dass es eine besonders niedrige Erwerbsquote der Frauen und eine relativ geringe Erwerbstätigkeit unter allen Erwerbsfähigen gab. Die Erwerbsquote aller weiblichen Erwerbspersonen in den Berufszählungen 1925 und 1933 lag in den Ruhrgebietsstädten Duisburg (-Hamborn) und Essen zwischen rund 16 bis 19 Prozent, in den Dienstleistungszentren Düsseldorf und Köln zwischen 25 und 28 Prozent und in den Textilstädten zwischen 29 und 32 Prozent. Selbst bei den Anteilen der Geschlechter an der gesamten Wohnbevölkerung wirkten sich die spezifischen Strukturbedingungen aus. In Duisburg (-Hamborn) lag der Anteil der Männer sogar ganz ungewöhnlich bei fast 52 (1925) beziehungsweise 50 Prozent (1933). Aber auch in den beiden Großstädten am Rhein, Düsseldorf und Köln, die bevorzugte Standorte für Wirtschaftsverwaltungen und Verbände, Banken, Versicherungen und Handelskonzerne waren, hatte die Produktionsgüterindustrie eine große Bedeutung für die Beschäftigung von Arbeitskräften.
In diesen beiden „Dienstleistungszentren“ gab es aber ein attraktives Angebot von Beschäftigungsverhältnissen für Frauen als Angestellte. Wiederum völlig anderer war die Situation in Wuppertal und in Gladbach-Rheydt als große Standorten der Textil- und Bekleidungsindustrie. Extrem einseitig waren die Verhältnisse in Gladbach-Rheydt, wo zwei Drittel der Arbeitnehmer im Textil- und Bekleidungsgewerbe beschäftigt waren. Im Vergleich dazu wurde die Lage Wuppertals durch seine Rolle als bergisches Dienstleistungs- und Handelszentrum abgemildert.
Die Einkommensverhältnisse in den sechs Städten hingen natürlicherweise stark von den Löhnen und Gehältern in den dominierenden Wirtschaftsbranchen ab. In den beiden Dienstleistungszentren Düsseldorf und Köln konnten die höchsten Einkommen erzielt werden. In der Mitte der Städte über 200.000 Einwohnern lagen die Montanzentren Duisburg (-Hamborn) und Essen. Den Schluss der Einkommensskala bildeten die Textil- und Bekleidungszentren Gladbach-Rheydt und Wuppertal mit den relativ niedrigen Löhnen in den dortigen Branchen. Auch bei der Veranlagung zur Vermögensteuer 1928 ergaben sich deutliche Unterschiede zwischen den Städten. In Duisburg (-Hamborn) und Essen lag der Anteil der Steuerpflichtigen deutlich niedriger als in den übrigen Städten.
Ein Blick auf die demographischen Verhältnisse in den rheinischen Großstädten ergibt im Unterschied zur Wirtschaftsstruktur keine Dreiteilung, sondern eine Aufteilung in zwei Städtegruppen: Duisburg(-Hamborn), Essen und Gladbach-Rheydt wiesen eine ziemlich junge Bevölkerung mit größeren Familien und Haushalten auf. Düsseldorf, Köln und Wuppertal hatten eine vergleichsweise ältere Einwohnerschaft mit kleineren Familien und Haushalten. Die strukturellen Unterschiede zwischen den Städten bildeten sich entsprechend in ihren finanziellen Verhältnissen ab, wie sie sich zum Beispiel in den Steuerkraftmesszahlen ausdrückten. Die oben nach wirtschaftlichen Merkmalen vorgenommene Dreiteilung der sechs rheinischen Großstädte über 200.000 Einwohner traf sowohl auf die Steuerkraft im Allgemeinen als auch auf die Gemeindesteuern im Besonderen zu. Düsseldorf und Köln standen im Rechnungsjahr 1930/1931 (1.4.1930-31.3.1931) am besten da und behielten diese Position die ganze Weltwirtschaftskrise hindurch. Es folgten die Ruhrgebietsstädte Duisburg (-Hamborn) und Essen in einer mittleren Lage, solange die Konjunktur in der Montanwirtschaft lief. Den Schluss bildeten die Zentren des Textil- und Bekleidungsgewerbes Gladbach-Rheydt und Wuppertal, wo sich bereits früh eine branchenspezifische Krise auswirkte.
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Weiß, Lothar, Die rheinischen Großstädte während der Weltwirtschaftskrise 1929-1933 (Teil I – Rahmenbedingungen und Ausgangslage vor der Krise), in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-rheinischen-grossstaedte-waehrend-der-weltwirtschaftskrise-1929-1933-teil-i-%25E2%2580%2593-rahmenbedingungen-und-ausgangslage-vor-der-krise/DE-2086/lido/57d133b64d62c1.00653753 (abgerufen am 11.11.2024)