Mythos Rhein aus Sicht der Deutschen und Rheinländer
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1. „Teutschlands Strom…“ – Kampf um die Rheingrenze
Der Rhein als natürliche Grenze des eigenen Staates, das ist eine französische Idee, deren Ursprünge zurück in das 15. Jahrhundert reichen. Nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges hatte das französische Königreich zwar die Engländer erfolgreich vom Kontinent vertrieben, es blieb aber die unangenehme Bedrohung bestehen, durch das Haus Habsburg zwischen dem spanischen Reich und dem deutschen Reich im Zangengriff gehalten zu werden.
Das Zeitalter der Renaissance brachte nicht nur die Wiederentdeckung der Antike und der antiken Schriften wie etwa „De bello gallico“ von Julius Caesar (110-44 v. Chr.); es kam auch zur Identifikation und Gleichsetzung Frankreichs mit dem alten Gallien. Der Lothringer Jean le Bon veröffentlichte 1568 ein Pamphlet mit dem Titel „Le Rhin au Roy“, das sich mit „Der Rhein gehört dem König“ übersetzen lässt. In diesem Werk forderte er daher ganz deutlich, das französische Herrschaftsgebiet bis zum Rhein auszudehnen, um das ganze alte Gallien wieder erstehen zu lassen: „Wenn Paris den Rhein trinkt, hat ganz Gallien sein Ende wieder“.
Diese Forderung spielte fortan im Verhältnis Frankreichs zu der Vielzahl von östlichen Nachbarn eine keineswegs unbedeutende Rolle. Im 17. Jahrhundert gehörte die finanzielle Unterstützung der rheinischen Kurfürsten von Köln, Mainz und Trier zum beliebten Instrument französischer Politik, um das innere Mächtegleichgewicht des Deutschen Reiches zu beeinflussen und die Habsburger nicht allzu sehr erstarken zu lassen. Frankreich konnte mit dem Zugewinn des Elsass die Grenzen bis an den Oberrhein vorschieben und sogar einen kurzlebigen Rheinbund ins Leben rufen. Die französische Expansions- und Annexionspolitik wurde ganz selbstverständlich als „Reunion“, also als „Wiedervereinigung“ mit Frankreich, bezeichnet.
Am Anfang des 17. Jahrhunderts war auch erstmals der Staat zu territorialen Besitzungen am Rhein gekommen, der später – nolens volens – zum großen Gegenspieler Frankreichs und zur Schutzmacht des Rheinlandes werden sollte: das Kurfürstentum Brandenburg-Preußen. Kurfürst Johann Sigismund (1572-1619) konnte im Jülisch-Klevischen-Erbfolgestreit nach dem Tod des kinderlos gebliebenen Herzogs Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Mark (1562-1609) seine Ansprüche behaupten und hatte 1614 im Vertrag von Xanten aus der Erbmasse das Herzogtum Kleve sowie die Grafschaften Mark und Ravensburg erhalten. Die große Bedeutung, welche die preußischen Westprovinzen im 17. Jahrhundert bei der Ausweitung des Staates gehabt hatten, verloren sie im 18. Jahrhundert wieder. Das Hauptaugenmerk der preußischen Politik lag wieder im Osten. König Friedrich II. (Regierungszeit 1740-1786) strebte hier nach Zugewinn und entriss Österreich in drei Kriegen ab 1740 Schlesien.
In den ersten beiden Kriegen waren Preußen und Frankreich noch Verbündete gegen Österreich gewesen. Beide hatte das Bemühen, die Vorherrschaft der Habsburger im Deutschen Reich zu schwächen, geeint. Doch der britisch-französische Gegensatz in den Kolonien bewirkte ab 1754 in Europa eine „Umkehrung der Allianzen“ (Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi - 1773-1842 - beziehungsweise Richard Waddington, 1838-1913). Das mit Russland in Absprachen verbundene Großbritannien verbündete sich mit Preußen, um sein Kurfürstentum Hannover zu schützen. Preußen durchbrach damit die von Österreich zur Rückgewinnung Schlesiens angestrebte außenpolitische Isolierung. Frankreich näherte sich Österreich an, um den französisch-habsburgischen Gegensatz zu entschärfen und einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden.
Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) kämpfte Frankreich daher erstmals als Verbündeter zusammen mit Österreich. Als Folge dieser neuen Allianz griff es nach den preußischen Provinzen am Rhein und besetzte sie während des gesamten Krieges. Preußen hatte weder die Macht noch den Willen, eine Rückeroberung zu versuchen. Der preußische König Friedrich II. zeigte sogar Verständnis für die französische Forderung nach der Rheingrenze, den preußischen Gebieten am Rhein maß er keine große Bedeutung bei.
Als die französische Monarchie unterging, brachen die Protagonisten der Französischen Revolution von 1789 zwar mit vielen Traditionen, aber beileibe nicht mit allen. Die außenpolitischen Interessen Frankreichs wiesen eine erstaunliche Kontinuität auf: die führenden Persönlichkeiten übernahmen die alte Forderung nach der Rheingrenze. In der Nationalversammlung legten sich die Abgeordneten im Dezember 1791 auf die Grenzen Frankreichs fest: „Vom Rhein bis zu den Pyrenäen, von den Alpen bis zum Ozean“. Damit verfestigte sich die Rheingrenze als Bestimmung und Schicksal Frankreichs. Jetzt war es nicht mehr die Idee eines Monarchen, sondern des Volkes. 1794 besetzten die Revolutionstruppen das linksrheinische Gebiet und errichteten zunächst eine provisorische Verwaltung, die wenige Jahre später in die französische Staatsverwaltung überging. Die Umgestaltung der Verwaltung des neu gewonnen Gebietes ging einher mit der wirtschaftlichen Umverteilung des Besitzes der durch die Säkularisation seit 1802 enteigneten Stifte, Klöster und Konvente.
Ermöglicht worden war dies durch den zunächst heimlichen Verzicht auf die linksrheinischen Gebiete des Deutschen Reiches durch Preußen im Frieden von Basel 1795 und Österreich im Frieden von Campo Formio 1797. Schließlich folgte die öffentliche Abtretung an Frankreich im Frieden von Lunéville 1801. Tatsächlich lag von 1794 bis 1814 die Grenze des französischen Staatsgebietes am Rhein.
Darüber hinaus formte der französische Kaiser Napoleon Bonaparte (1769-1821) mit dem 1806 ins Leben gerufenen „Rheinbund“ einen Gürtel von deutschen Satellitenstaaten, die nicht nur als französisches Vorfeld dienten, sondern auch noch Soldaten für seine zahlreichen Feldzüge stellten. Zudem waren einige eng mit der Familie Napoleons verbunden: Großherzog des neu geschaffenen Großherzogtums Berg war zunächst bis 1808 Napoleons Schwager Joachim Murat (1767-1815), dann Napoleons vierjähriger Neffe Napoleon Louis Bonaparte (1803-1831). Für diesen übernahm Napoleon selbst die Regentschaft.
In das ebenfalls neu errichtete Königreich Westfalen setzte Napoleon als König seinen jüngsten Bruder Jérôme Bonaparte (1784-1860) ein. Beide Staaten erhielten eine moderne Verwaltung und verstaatlichten die geistlichen Besitztümer. Auch Baden, Württemberg und Bayern konnten sich den Reformideen nicht entziehen. Sie erneuerten ebenfalls ihre Verwaltungen und führten die Säkularisation durch.
Die französische Besetzung des Rheinlandes und die Vorherrschaft der Franzosen in Europa trafen trotz aller Modernisierung auf zunehmende Ablehnung. Sie gründete vor allem auf den wirtschaftlichen Fesseln der Zollgrenze am Rhein und der Kontinentalsperre sowie den stetigen Einberufungen von Soldaten. Ideologisch wurde sie aufgeladen durch einen neu erwachten nationalen Selbstbehauptungswillen. Das 1806 untergegangene Deutsche Reich beziehungsweise dessen mittelalterliche Blüte wurde romantisierend als „gute alte Zeit“ verklärt und mit Sehnsüchten nach neuer nationaler Größe verknüpft.
Die anti-napoleonische Haltung zeigte sich zuerst bei den Intellektuellen. Heinrich von Kleist (1777-1811), der 1793 am Feldzug gegen Frankreich teilgenommen hatte, wandte sich trotz anfänglicher Begeisterung für die Ideen der französischen Revolution nach der Besetzung Preußens gegen die napoleonische Herrschaft. Zwischen 1806 und 1808 schrieb er das Stück „Die Hermannsschlacht“, welches den Kampf zwischen dem Germanen Arminius (Deutsche) und dem Invasoren Varus (Franzosen) behandelt. In seiner 1809 entstandenen Ode „Germania an ihre Kinder“ heißt es aufrüttelnd:
Die des Maines Regionen,
Die der Elbe heitre Aun,
Die der Donau Strand bewohnen,
Die das Odertal bebaun,
An des Rheines Lauben sitzen,
Von dem duftgen Mittelmeer,
Von dem Riesenberge Spitzen,
Von der Ost und Nordsee her!
[Chor]
Horchet! – Durch die Nacht, ihr Brüder,
welch ein Donnerruf hernieder?
Stehst Du auf, Germania?
Ist der Tag der Rache da?
Wer nicht nur auf den Tag der Rache warten wollte, engagierte sich gegen Napoleon. Allerdings konnte das Aufbegehren zur Flucht ins Exil führen. Ernst Moritz Arndt, geboren in Groß-Schoritz (heute Ortsteil von Garz) auf der Insel Rügen, die damals noch zu Schweden gehörte, war seit 1801 Privatdozent und 1806 Professor an der Universität Greifswald gewesen. Auf Grund einer anti-napoleonischen Flugschrift musste er nach der Schlacht von Jena und Auerstedt 1806 nach Schweden flüchten. 1809 kehrte er nach Deutschland zurück und ging 1812 auf Einladung des Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherrn vom und zum Stein (1757-1831) als dessen Privatsekretär nach Russland. Während die beiden auf politischer Ebene die Annäherung von Russland und England beförderten, unterstützten sie gleichzeitig den Aufbau der Russisch-Deutschen Legion. Arndt flankierte die Bemühungen mit politischen Kampfschriften in Form von patriotischen Flugschriften, Gedichten und Liedern.
Der Russlandfeldzug Napoleons 1812 endete mit dem Rückzug der französischen Armee und der Hilfstruppen der mit Frankreich verbündeten Staaten. Das militärisch von Napoleon gedemütigte und aus seinen westlichen Gebieten vertriebene Preußen hatte ebenfalls ein Truppenkontingent gestellt. Am 30.12.1812 handelte der preußische General Johann David von Yorck (1759-1830) eigenmächtig einen Waffenstillstand mit den russischen Truppen aus. In dieser Konvention von Tauroggen erklärten sich die preußischen Truppen für neutral. Drei Monate, im März 1813, markierte die Kriegserklärung des preußischen Königs an Frankreich endgültig den Übergang vom Verbündeten zum Gegner und eröffnete die so genannten „Befreiungskriege“. Der Koalition aus Russland und Preußen schloss sich Österreich an. Höhepunkt des Krieges war die „Völkerschlacht“ bei Leipzig im Oktober 1813, in der die Alliierten Napoleon besiegten. Die Reste der geschlagenen französischen Armee zogen sich hinter den Rhein und damit nach Frankreich zurück. Der von Napoleon 1806 geschaffene Rheinbund zerfiel. Die nachrückenden Alliierten erreichten Anfang November den Rhein. Sie besetzten die nördlichen Rheinbundstaaten Westfalen, Berg und Frankfurt und richteten dort Übergangsverwaltungen ein. Die süddeutschen Monarchien wie die in Bayern, Baden und Württemberg blieben von solch einer Auflösung verschont.
Bereits im Januar 1813 hatte Arndt mit seiner Flugschrift „Was bedeutet Landsturm und Landwehr“ die Volksbewaffnung empfohlen. Nach dem Vorbild des Landsturmedikts des preußischen Königs vom 21.4.1813 rief im Großherzogtum Berg der Interimsverwalter Justus Gruner (1777-1820) am 13./25. Dezember ebenfalls zur Bildung eines Landsturms auf. Er verwies dabei ausdrücklich auf die Männer des Siebengebirges. Tatsächlich hatte sich dort vor der offiziellen Aufstellung eine Bürgerwehr zusammengefunden, die sich nun der „freiwillige Landsturm vom Siebengebirge“ nannte. Die Rheinländer versahen nun den Vorpostendienst an der Rheingrenze.
Wie sehr diese Rheingrenze bereits akzeptiert worden war, zeigt das Zögern der Alliierten den Rhein zu überqueren. In dieser Situation stellte sie ihnen die Frage, ob mit der Befreiung Deutschlands in den Grenzen von 1813 ihre Kriegsziele erreicht worden waren oder nicht. Der österreichische Außenminister Clemens Wenzel Lothar von Metternich plädierte im Sinne des Gleichgewichts der Kräfte für den Erhalt Frankreichs als Großmacht, um eine Vorherrschaft des erstarkten Russlands zu verhindern. Mitte November 1813 boten die Alliierten deshalb dem geschlagenen Napoleon als Verhandlungsbasis für einen Frieden an, Frankreich in seinen natürlichen Grenzen zu erhalten.
Publizistisch schaltete sich nun Arndt mit einer weiteren Publikation in diese Debatte ein. Noch 1813 erschien seine Flugschrift „Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze“. In ihr skizzierte Arndt die Tradition der französischen Rheinpolitik von ihren Anfängen bis zu den „Ungeheuer[n] an der Seine vom Jahre 1790 bis 1800“. Die Naturgrenze eines Volkes argumentierte Arndt, sei nicht eine natürliche Gegebenheit wie ein Fluss, sondern vielmehr der Sprachraum: „was sind die Naturgränzen eines Volkes? Ich sage: die einzige gültigste Naturgränze macht die Sprache.“ So wie die Sprache eine Besonderheit sei, so habe auch das Volk, die Nation, die sie spricht, ihre Besonderheiten in der Rechtsauffassung und in der Politik. Arndt verknüpfte Deutschlands Schicksal mit dem Rhein, denn: „ohne den Rhein kann die teutsche Freiheit nicht bestehen.“ Auch das Gleichgewicht der Kräfte in Europa bemühte Arndt, da „Teutschlands Selbständigkeit und Europens Sicherheit nicht bestehen kann, wenn die Franzosen den Rhein und die jenseits des Rheins liegenden teutschen Lande behalten.“ Nur ein deutscher Rhein könne Europa vor der französischen Vorherrschaft bewahren: „Wenn Frankreich den Rheinstrom mit seinen Landen behält, so behält es nicht nur sein alles Gleichgewicht aufhebendes Übergewicht über Teutschland, sondern auch über das übrige Europa.“
Weitere Publikationen forderten ebenso, dass der Rhein nicht die Grenze Deutschlands sei. Eine anonyme Druckschrift mit dem Titel „Deutschland im rheinischen Bunde und nach seiner Wiedergeburt; oder: der Friede ohne Rheingrenze“ von 1813 formulierte emotional: „Der Rhein sey ein deutscher Strom, und trenne fürder nicht Brüder von Brüdern!“
Damit stützten Arndt und die anderen Publizisten das Drängen des Freiherrn vom Stein und der preußischen Militärs. Sie befürworteten die Fortsetzung des Krieges und das Eindringen nach Frankreich, um Napoleons Machtbasis zu zerschlagen. Da Napoleon das Angebot der Alliierten ignorierte und neue Truppen aushob, entschlossen sich die Alliierten, die Kampfhandlungen wieder aufzunehmen. Den Krieg von 1814 leitete der preußische Generalfeldmarschall Gerhard Leberecht von Blücher (1742-1819) mit dem Rheinübergang bei Kaub in der Neujahrsnacht ein.
Dieses Ereignis begrüßten und bejubelten die Zeitgenossen. Inspiriert von Blüchers Rheinübergang erschien 1814 das Gedicht „Lied vom Rhein“ von Max von Schenkendorf (1783-1817), der als Freiwilliger an den Befreiungskriegen und an der „Völkerschlacht“ bei Leipzig teilgenommen hatte. Hierin wurde der Rhein als „heilig“ überhöht und seine Freiheit beschworen, Motive, die fortan immer wiederkehren sollten.
Max von Schenkendorf, Lied vom Rhein (1814)
...
Das ist der heil'ge Rhein
Ein Herrscher, reich begabt
Deß Name schon wie Wein,
Die treue Seele labt.
Es regen sich in allen Herzen
Viel Vaterländ'sche Lust und Schmerzen,
Wenn man das deutsche Lied beginnt
Vom Rhein, dem hohen Felsenkind.
...
Wir huld'gen unserm Herrn,
Wir trinken seinen Wein.
Die Freiheit sey der Stern!
Die Losung sey der Rhein!
Wir wollen ihm auf‘s neue schwören,
Wir müssen ihm, er uns gehören!
Vom Felsen kommt er frei und hehr,
Er fließe frei in Gottes Meer!
(2. und 9. Strophe)
Das Überschreiten des Rheins bedeutete das Eindringen nach Frankreich. Das Hineintragen des Krieges nach Frankreich wurde mit Genugtuung aufgenommen und später als Blüchers Verdienst angesehen. Der Rheinübergang legte den Grundstein des späteren Blücher-Mythos als „Marschall Vorwärts“. August Kopisch (1799-1853), der Dichter der „Heinzelmännchen zu Köln“, malte den Moment in dem 1836 erschienenen Gedicht „Blücher am Rhein“ aus:
August Kopisch, Blücher am Rhein (1836)
Die Heere blieben am Rheine stehen:
Soll man hinein nach Frankreich gehn?
Man dachte hin und wieder nach,
Allein der alte Blücher sprach:
„Generalkarte her!
Nach Frankreich gehn ist nicht so schwer.
Wo steht der Feind?“ – „Der Feind? – dahier!“
„Den Finger drauf, den schlagen wir!
Wo liegt Paris?“ – „Paris? – dahier!“
„Den Finger drauf, den schlagen wir!
Nun schlag die Brücken übern Rhein!
Ich denke, der Champagnerwein
Wird, wo er wächst, am besten sein!“
Rheinübergänge der alliierten Truppen fanden allerdings auch bei Mannheim und Koblenz statt. Einer der Organisatoren des Landsturms im Rheinland war der preußische Major der Garde-Jäger Ferdinand Wilhelm Franz Bolstern von Boltenstern (1786-1814). Der Landsturm war nur zur Verteidigung der Heimat und nicht für Offensivaktionen vorgesehen, wie Boltenstern sie im Sinn hatte. Anfang Januar 1814 versuchte er im Anschluss an den Rheinübergang Blüchers bei Kaub, einen Angriff bei Mülheim über den Rhein auf Köln auszuführen. Die unerwartete heftige französische Gegenwehr trieb seinen Trupp aus preußischen Jägern, Russen und frisch rekrutierten bergischen Truppen zurück in den Rhein. Boltenstern starb – vermutlich tödlich verwundet – beim Rückzug im Rhein. Sein Leichnam wurde nie gefunden.
Zur gleichen Zeit – möglicherweise als Ablenkungsmanöver gedacht – kam es von der Insel Nonnenwerth aus zu einem Schusswechsel mit französischen Truppen auf der anderen Rheinseite. Dabei wurde der Königswinterer Steinhauermeister Johann Joseph Genger (1774-1814) tödlich verwundet, so dass er einige Tage später starb. Damit hatte der Landsturm im Rheinland – wenn Boltenstern als Organisator dazu gezählt wird – zwei Opfer zu beklagen.
Schon 1814 erhielten Boltenstern und Genger ein Denkmal, gestiftet vom Landsturm. Am Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, am 18.10.1814, war die feierliche Einweihung des von dem Baudirektor des Großherzogtums Berg Adolph von Vagedes (1777-1842) gestalteten Obelisken. Im ganzen Rheinland fanden an diesem Tag Feiern statt, die der Befreiung des Rheinlandes gewidmet waren. Die Idee zu diesen Feiern an diesem Tag stammte von Arndt, der damit ein Zeichen setzen wollte: „Hier aber um den heiligen Rhein von den Bergen über Düsseldorf bis zu den Bergen über Basel und dann auf den Hunsrück und Donnersberg sollen sie unseren uralten Neidern und Widersachern entgegenflammen und melden, welches Fest in Teutschland begangen wird.“
Die siegreichen Alliierten bestimmten auf dem Wiener Kongress 1815 über die territoriale Zukunft Europas. Den wichtigsten und größten territorialen Zugewinn am Rhein erhielt das anfangs zögerliche Königreich Preußen: das Rheinland von der niederländischen Grenze bis zur Nahe. Aus diesem Gebiet entstand alsbald die preußische Rheinprovinz, in der weiterhin der napoleonische Code Civil als „Rheinisches Recht“ Geltung hatte. Die 1818 vom preußischen König gegründete Bonner Universität hatte eigens einen Lehrstuhl dafür eingerichtet. Eine Professur erhielt auch Ernst Moritz Arndt.
Der nicht weit von Bonn entfernte Drachenfels avancierte im 19. Jahrhundert als Kulisse für patriotische Bekenntnisfeiern. Die Turnerbewegung lud 1818 zur Jahresfeier der Völkerschlacht auf den Berg ein, doch bereits ein Jahr später waren solche national denkenden Gruppierungen unter aufmerksamer Beobachtung und die Burschenschaften verboten worden. Die Bonner Studenten zogen 1819 auf den Bonner Kreuzberg. Heinrich Heine, der im Wintersemester 1819/1820 an der gerade eröffneten Bonner Universität Rechts- und Kameralwissenschaften studierte, nahm daran teil, verlegte in seinem Gedicht aber die Kundgebung auf den Drachenfels, um eine höhere Wirkung zu erzielen. Gleichwohl hielt er die für ihn typische ironische Distanz zum Geschehen.
Heinrich Heine, Die Nacht auf dem Drachenfels (Mai 1820)
Um Mitternacht war schon die Burg erstiegen,
Der Holzstoß flammte auf am Fuß der Mauern,
Und wie die Burschen lustig niederkauern,
Erscholl das Lied von Deutschlands heilgen Siegen.
Wir tranken Deutschlands Wohl aus Rheinweinkrügen,
Wir sahn den Burggeist auf dem Turme lauern,
Viel dunkle Ritterschatten uns umschauern,
Viel Nebelfraun bei uns vorüberfliegen.
Und aus den Trümmern steigt ein tiefes Ächzen,
Es klirrt und rasselt, und die Eulen krächzen;
Dazwischen heult des Nordsturms Wutgebrause.
Sieh nun, mein Freund, so eine Nacht durchwacht ich
Auf hohem Drachenfels, doch leider bracht ich
Den Schnupfen und den Husten mit nach Hause.
Das Landsturm-Denkmal auf dem Drachenfels verfiel in den folgenden Jahren, so dass 1857 ein neues durch den Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner in Form einer neugotischen Fiale geschaffen wurde, auf dem die Namen der beiden Toten nicht mehr erschienen. 1876 musste auch dieses Denkmal ersetzt werden. Auf Drängen der Familie Boltensterns wurde 1914 an anderer Stelle auf dem Drachenfels ein Obelisk errichtet, der die Namen Boltenstern und Genger wieder aufwies.
2. „Sie sollen ihn nicht haben …“ – Die Rheinkrise 1840
Nach dem Ende der napoleonischen Kriege reisten viele wohlhabende Briten auf ihrer „Großen Tour“ traditionell von England nach Italien und nahmen den Weg den Rhein hinauf. Die von ihnen als natürlich und schön empfundene Rheinlandschaft löste Begeisterung bei den Reisenden aus. Berichte, Briefe und vor allem George Gordon Byrons (1788-1824) Gedicht über „The castled crag of Drachenfels“ sorgten zunächst für einen stetig anschwellenden Strom britischer Touristen, denen bald auch die deutschen Reisenden folgten. Die aufblühende Rheinromantik verwandelte den Fluss endgültig in ein – erreichbares – Ziel der Sehnsucht. Maler, Dichter und Musiker verbreiteten ein verklärtes Bild des Rheinlandes, Buchverleger wie Karl Baedeker mit seinen Reiseführern und die aufkommende Dampfschifffahrt trugen ihren Teil dazu bei, sehr viele Menschen an den Rhein zu befördern. Sie genossen den Ausflug, den Rheinwein und die – zumindest zeitweise – Befreiung von den Zwängen der Gesellschaft.
Auch das preußische Königshaus war „vom Zauber des Rheins ergriffen“. Die Burgenfans unter den Hohenzollern erwarben Burgruinen wie die von Rolandseck und ließen sich Burgen nachbauen wie etwa Schloss Stolzenfels.
Mit der wachsenden Bedeutung des Rheins für eine immer breitere Öffentlichkeit fand auch seine politische Aufladung statt. Die Entscheidung des preußischen Königs, im Rheinland den Bau des Kölner Doms zu vollenden, fand in der Kreisen der Nationalbewegung größten Zuspruch. Der Dombau wurde zur nationalen Aufgabe und der zu vollendende Dom zum Symbol für die noch ausstehende Vollendung der deutschen Einheit. Die deutsche Nationenbildung hatte am Rhein ihr sichtbarstes Zeichen erhalten.
Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Nation waren mit der Freiheit des Rheins nahezu eine Symbiose eingegangen. Daher betrafen Angriffe von französischer Seite auf diese Freiheit die ganze deutsche Nation.
Der deutsch-französische Gegensatz fand in der Rheinkrise von 1840 einen neuen Höhepunkt. Der französische Ministerpräsident Adolph Thiers (1797-1877) hatte in der Orientalischen Frage eine diplomatische Niederlage hinnehmen müssen und suchte ein Ventil für die Empörung im Land. Er richtete sie auf das Rheinland, forderte die Revision der Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1815 und erhob den französischen Anspruch auf das linksrheinische Gebiet.
Die politischen Spannungen ließen in Deutschland die patriotische Stimmung steigen und es entzündete sich ein Dichterstreit, bei dem diese mit zahlreichen politischen Liedern ein flammendes Bekenntnis zum deutschen Rhein ablegten.
Eines der ersten und populärsten Lieder schrieb der in Bonn geborene Nikolaus Becker. Er hatte Rechtswissenschaft studiert und war Gerichtsschreiber am Friedensgericht in Geilenkirchen als er das „Rheinlied“ dichtete. Es erschien am 18.9.1840 in der „Trierischen Zeitung“ und dessen erste Zeilen sollten schon bald in aller Munde sein: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien, deutschen Rhein…“
Nikolaus Becker, Rheinlied (September 1840)
Sie sollen ihn nicht haben
Den freien deutschen Rhein,
Ob sie wie gierige Raben
Sich heiser danach schrei´n,
So lang er ruhig wallend
Sein grünes Kleid noch trägt,
So lang ein Ruder schallend
In seine Woge schlägt.
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien, deutschen Rhein,
So lang sich Herzen laben
An seinem Feuerwein.
So lang in seinem Strome
Noch fest die Felsen steh´n,
So lang sich hohe Dome
In seinem Spiegel seh´n!
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien, deutschen Rhein,
So lang dort kühne Knaben
Um schlanke Dirnen frei´n.
So lang die Flosse hebet
Ein Fisch auf seinem Grund,
So lang ein Lied noch lebet
In seiner Sänger Mund.
Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Bis seine Flut begraben
Des letzten Manns Gebein!
Das Lied war so beliebt, dass es auf über 70 Vertonungen kam. Ernst Moritz Arndt kommentierte Beckers Lied mit einem eigenen Gedicht:
Ernst Moritz Arndt, Das Lied vom Rhein an Niklas Becker (1840)
Es klang ein Lied vom Rhein,
Ein Lied aus deutschem Munde,
Und schnell wie Blitzesschein
Durchflog's die weite Runde,
Und heiß wie Blitzesschein
Durchzuckt es jede Brust
Mit alter Wehen Pein,
Mit junger Freuden Lust.
Sein heller Widerklang
Vom Süden fort zum Norden
Ist gleich wie Wehrgesang
Des Vaterlands geworden.
Nun brause fröhlich, Rhein:
Nie soll ob meinem Hort
Ein Welscher Wächter sein!
Das brause fort und fort.
Und stärkrer Widerklang
Gleich Pauken und Posaunen,
Gleich kühnem Schlachtgesang
Klingt Welschland durch mit Staunen –
Es klinget: Neue Zeit
Und neues Volk ist da;
Komm, Hoffart, willst du Streit!
Germania ist da.
Drum klinge, Lied vom Rhein!
Drum klinget, deutsche Herzen!
Neu, jung will alles sein –
Fort, fort die alten Schmerzen,
Der alten Wahne Tand!
Alleinig stehn wir da
Fürs ganze Vaterland,
Jung steht Germania.
Auf der französischen Seite erfolgte in diesem Liederstreit die Antwort durch Alfred de Musset (1810-1857), der unter dem Titel „Le Rhin allemand“ ein Gedicht veröffentlichte:
Alfred de Musset, Le Rhin allemand (1840)
Wir haben ihn gehabt, den deutschen Rhein.
In unserm Glas sahn wir ihn funkeln.
Mit eures Schlagers Prahlerein
Wollt ihr die stolze Spur verdunkeln,
Die unsrer Rosse Huf grub euch ins Blut hinein?
...
Gehört er euch denn, euer deutscher Rhein,
Wascht die Livree darin bescheiden;
Doch mäßigt eure stolzes Schrein.
Wieviele Raben, auszuweiden
Den todeswunden Aar, mögt ihr gewesen sein?
Laßt friedlich fließen euern deutschen Rhein;
Es spiegele sich geruhsam wider
Der Dome gotisches Gestein;
Doch hütet euch, durch trunkne Lieder
Von ihrem blutgen Schlaf die Toten zu befrein.
Heinrich Heine griff den „literarisch-politischen Schlagabtausch“ noch einmal kritisch auf und ließ „Vater Rhein“ in seinem 1844 veröffentlichten „Deutschland. Ein Wintermährchen“ sagen:
Zu Biberich hab ich Steine verschluckt,
Wahrhaftig, sie schmeckten nicht lecker!
doch schwerer liegen im Magen mir
die Verse von Niklas Becker.
Lieder wie „Der Rhein“ von Alexander Reiferscheid und „Auf dem Rhein“ von Emanuel Geibel (1815-1884) sind heute kaum noch bekannt. Ebenso ist es dem „Rheinweinlied“ von Georg Herwegh (1817-1875) ergangen, in dem sich in typischer Weise nationaler Pathos mit Rhein, Weib und Gesang verbinden.
Georg Herwegh, Rheinweinlied (Oktober 1840)
Wo solch ein Feuer noch gedeiht,
Und solch ein Wein noch Flammen speit,
Da lassen wir in Ewigkeit
Uns nimmermehr vertreiben.
Stoßt an! Stoßt an! Der Rhein,
Und wär's nur um den Wein,
Der Rhein soll deutsch verbleiben.
Herab die Büchsen von der Wand,
Die alten Schläger in die Hand,
Sobald der Feind dem welschen Land
Den Rhein will einverleiben!
Haut, Brüder, mutig drein!
Der alte Vater Rhein,
Der Rhein soll deutsch verbleiben.
Das Recht' und Link, das Link' und Recht',
Wie klingt es falsch, wie klingt es schlecht!
Kein Tropfen soll, ein feiger Knecht,
Des Franzmanns Mühle treiben.
Stoßt an! Stoßt an! Der Rhein,
Und wär's nur um den Wein,
Der Rhein soll deutsch verbleiben.
Der ist sein Rebenblut nicht wert,
Das deutsche Weib, den deutschen Herd,
Der nicht auch freudig schwingt sein Schwert,
Die Feinde aufzureiben.
Frisch in die Schlacht hinein!
Hinein für unsern Rhein!
Der Rhein soll deutsch verbleiben.
O edler Saft, o lauter Gold,
Du bist kein ekler Sklavensold!
Und wenn ihr Franken kommen wollt,
So laßt vorher euch schreiben:
Hurra! Hurra! Der Rhein,
Und wär's nur um den Wein,
Der Rhein soll deutsch verbleiben.
Eines der heute noch bekannten Gedichte aus der Zeit der Rheinkrise entfaltete seine volle Wirksamkeit aber erst gut 30 Jahre später. Es ist „Die Wacht am Rhein“ und stammt von dem jungen Kaufmann Max Schneckenburger (1819-1849).
Max Schneckenburger, Die Wacht am Rhein (November 1840)
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
Durch hunderttausend zuckt es schnell,
Und aller Augen blitzen hell:
Der deutsche Jüngling, fromm und stark,
Beschirmt die heil´ge Landesmark.
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
Auf blickt er, wo der Himmel blaut,
Wo Vater Hermann niederschaut,
Und schwört mit stolzer Kampfeslust:
„Du Rhein, bleibst deutsch, wie meine Brust!“
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
„Und ob mein Herz im Tode bricht,
Wirst du doch drum ein Welscher nicht,
Reich wie an Wasser deine Flut,
Ist Deutschland ja an Heldenblut.“
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
„Solang ein Tröpfchen Blut noch glüht,
Noch eine Faust den Degen zieht,
Und noch ein Arm die Büchse spannt,
Betritt kein Welscher deinen Strand.“
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
Die Fahnen flattern in dem Wind.
Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein,
Wir alle wollen Hüter sein!
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
Der Text wurde umgehend von dem aus Darmstadt stammenden Berner Organisten Johann Jakob Mendel (1809-1881) vertont. Im Dezember 1840 erschienen Text und Noten. Im Hause des preußischen Gesandten in Bern von Bunsen vom Berner Musikdirektor Adolph Methfessel (1807-1878) uraufgeführt, blieb es jedoch weitgehend unbeachtet. Erst als der Krefelder Chordirigent Karl Wilhelm (1814-1873) auf den Text aufmerksam wurde und 1854 die heute bekannte Neuvertonung am Tag der Silberhochzeit des Prinzen Wilhelm, des späteren Kaisers Wilhelm I. (Regentschaft ab 1858, König 1861, Kaiser 1871-1888), präsentierte, nahm die Beliebtheit über Sängerfeste rasant zu.
Das bis heute bekannteste und wirksamste Werk aber schuf der Germanist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874). Er schrieb am 26.8.1841 auf Helgoland, das damals eine britische Insel war, auf die Melodie des „Kaiserliedes“ („Gott erhalte Franz den Kaiser“) von Joseph Haydn (1732-1809) ein Gedicht, das das alte untergegangene Reich mit dem neuen kommenden Deutschland verband und die Verlagerung des Schwerpunktes von der Monarchie zur Nation darstellte.
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Das Lied der Deutschen (August 1841)
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!
Der Rhein selbst findet im Text keine direkte Erwähnung, da als der westliche Grenzfluss die Maas genannt wird. Die Maas durchfloss das Herzogtum Limburg, das seit 1839 (mit Ausnahme von Maastricht und Venlo) zum Deutschen Bund gehörte. Ist die Maas die westliche Grenze, so liegt das Rheinland in Deutschland und der Rhein bildet nicht die Grenze Deutschlands. Das Zusammenhalten der Deutschen entsprach der Forderung nach der nationalstaatlichen Einheit, damit Deutschland den französischen Ansinnen geschlossen gegenüber treten könne.
3. „Die Wacht am Rhein…“ – Das Kaiserreich und der Rhein
Die Forderung nach Einigkeit und einem Nationalstaat – wenn auch ohne Österreich - erfüllte sich gut 30 Jahre später. Der siegreiche Krieg gegen Frankreich von 1870/1871 einte die Deutschen. Diplomatie, Bestechung und eine lärmende Propaganda halfen nach, wo es nötig war. Schneckenburgers Lied von der „Wacht am Rhein“ war allgegenwärtig. Es habe den Wert von mehreren Armeekorps gehabt, soll Otto von Bismarck (1815-1898) gesagt haben. Nationale Kreise forderten die Abtretung des linksrheinischen französischen Staatsgebietes bis zu den Vogesen. Beim Friedensschluss bestätigte Frankreich den Verzicht. Der größte Teil der beiden elsässischen und Teile der lothringischen Departements bildeten fortan das Reichsland Elsass-Lothringen im neuen deutschen Kaiserreich. Nunmehr war der Rhein nirgendwo mehr die Grenze zwischen deutschem und französischem Staatsgebiet.
Schneckenburgers „Wacht am Rhein“ in der Vertonung von Karl Wilhelm erhielt eine nationale Bedeutung, sie war nicht nur die Begleitmusik des 1870er-Krieges, sondern hob sich in der Folgezeit auch in den Rang einer zweiten Nationalhymne.
Das gemeinsame Zusammenstehen gegen den „Erbfeind“ Frankreich blieb in Deutschland stets in Erinnerung, wurde propagandistisch wach gehalten und war immer auch Mittel zum Zweck für die Politik des deutschen Reichskanzlers Bismarck. Schon vier Jahre nach dem Krieg, 1875, löste er die Krieg-in-Sicht-Krise aus. Ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „Ist Krieg in Sicht?“, der am 8.4.1875 in der regierungsnahen Zeitung „Post“ erschienen war, spekulierte über die französischen Militärausgaben. Autor war zwar der Journalist Constantin Rößler (1820-1896), aber es war deutlich, dass Reichskanzler Bismarck dahinter stand. Er drohte Frankreich mit einem Präventivkrieg im Falle weiterer Aufrüstung. Sein Ziel war, die Haltung der Großmächte Russland und Großbritannien zu erforschen. Aber auch innenpolitisch waren die Spannungen in den deutsch-französischen Beziehungen von Nutzen. Als der Exponent einer auf einen Revanchekrieg hinarbeitende Bewegung, der französische General Georges Boulanger (1837-1891), 1886 Kriegsminister seines Landes wurde und seitdem die Zahl der Truppen erhöhte, nutzte Bismarck dies geschickt aus, indem er die Gefahr hochspielte, um innenpolitisch bei den Wahlen 1887 eine seine Regierung unterstützende Mehrheit zu erhalten.
Um an die Einigung Deutschlands zu erinnern und die stetig beschworene „Wacht am Rhein“ auch symbolisch zu untermauern, entstanden am Rhein nationale und regionale Denkmäler. Die erste Anregung für das Nationaldenkmal oberhalb von Rüdesheim, das so genannte Niederwalddenkmal, datiert bereits auf das Jahr 1871. Zwischen 1877 und 1883 errichtet, konnte es am 28.9.1883 eingeweiht werden. Der Sockel des Denkmals mit der Germania-Figur trägt fünf der sechs Strophen des Liedes von Schneckenburger. Im Hauptrelief reicht „Vater Rhein“ das Wächterhorn an die „Tochter Mosel“ weiter, da der Rhein seit 1871 keine Grenze mehr war. Das Denkmal steht in einer Reihe nationaler Denkmalgroßprojekte wie der Walhalla in Donaustauf (1830-1842), dem Hermannsdenkmal bei Detmold (1838-1846 und 1863-1875), dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser (1890-1896), dem Bismarck-Denkmal in Hamburg (1901-1906) und dem Völkerschlachtdenkmal in Leipzig (1898-1913).
An Deutschlands Einigung wollten auch die Rheinländer erinnern. Als Dank an Kaiser Wilhelm I. sollte nach dessen Tod 1888 ein Denkmal der Rheinprovinz errichtet werden. Viele der eingereichten Entwürfe sahen als Standort das Siebengebirge vor. Letztlich aber überließ das Komitee die Entscheidung dem Kaiserenkel Wilhelm II. (Regentschaft 1888-1918). Dieser entschied sich 1891 für den Standort Koblenz, am Zusammenfluss von Rhein und Mosel. 1897 konnte das Reiterstandbild Wilhelms I. am Deutschen Eck in Koblenz eingeweiht werden.
In der langen Friedenszeit zwischen 1871 und 1914 erlebte das Rheinland den beginnenden Massentourismus, der bald das wirtschaftliche Profil und das Gesicht der Städte am Rhein veränderte. Eisenbahn, Schiffe und Busse schafften Menschen aus ganz Deutschland und allen Ländern der Welt an den Rhein, wo zwar weiterhin das nationale Pathos gepflegt wurde, die Rheinromantik aber immer mehr einer rührseligen (Rhein-) Weinseligkeit wich. Eine regelrechte Tourismusindustrie produzierte Ansichtskarten und ein unüberschaubares Anbot von Andenken, die millionenfach verkauft, verschickt und mitgenommen wurden.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 waren patriotische Lieder mehr als je zuvor gefragt. Schneckenburgers „Wacht am Rhein“ und Beckers „Das Lied vom Rhein“ gehörten zum allgemeinen Liedgut und wurden für die einsetzende Propaganda gerne genutzt. Das heutige Rheinland war erst Aufmarschgebiet und dann Hinterland für die Westfront. Vom Krieg ist es bis auf vereinzelte Bombenangriffe verschont geblieben. Das Oberelsass im Reichsland Elsass-Lothringen hingegen war vier Jahre lang Schauplatz schwerer Kämpfe.
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Klein, Ansgar S., Mythos Rhein aus Sicht der Deutschen und Rheinländer, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/mythos-rhein-aus-sicht-der-deutschen-und-rheinlaender/DE-2086/lido/57d124853b7bd1.35175552 (abgerufen am 09.10.2024)